Fährleute und Brückenbauer
Rosemarie Tietze, die preisgekrönte Übersetzerin aus dem Russischen

Roter Sand in den Alleen, grüne rebenüberwachsene Galerien, weißhäutige Damen im Kursaal – eine Kulisse für ein Stück Weltliteratur. Es ist Kislowodsk, ein in ganz Russland bekannter Kurort im nördlichen Kaukasus. Seit ein paar Wochen dürfte Kislowodsk auch deutschen Literaturfreunden ein Begriff sein – die Stadt ist Schauplatz in „Ein Abend bei Claire“ des russischen Schriftstellers Gaito Gasdanow (1903-1971). Das Werk ist neu auf dem hiesigen Buchmarkt, erstmals ins Deutsche übersetzt von Rosemarie Tietze. Vor zwei Jahren erschien bereits ein anderer Gasdanow-Roman in einer Tietze-Übertragung: „Das Phantom des Alexander Wolf“. Seitdem gibt es dieses Werk bei Hanser in der 17. Auflage, und seitdem „sind meine Sorgen weniger geworden“, versichert Rosemarie Tietze. „Jedenfalls konnte ich dadurch nach Kislowodsk reisen.“

Eigentlich hatte Rosemarie Tietze die Passage über den Kaukasus-Kurort in „Ein Abend bei Claire“ schon übersetzt, doch nach dem Besuch der Stadt, dem Abschreiten der Schauplätze, änderte sie noch so manches Detail. „Ich habe in Kislowodsk unter anderem mit einem Lokalhistoriker gesprochen“, betont sie. Rosemarie Tietze übersetzt seit 40 Jahren russische Literatur ins Deutsche – Tolstoi, Nabokov, Bitow. Als sie vor Jahren Texte für eine Anthologie über Sibirien ins Deutsche übertrug, war Rosemarie Tietze an den Baikal-See gefahren: „Ich wollte die sibirischen Bauernhütten sehen, denn ich kann nur lebendig beschreiben, was ich vor Augen habe.“ Detailgenauigkeit, die Meisterschaft im Nachahmen des Originals, das Finden einer eigenen Stimme haben Rosemarie Tietze etliche höchst renommierte Preise eingebracht, so etwa den Übersetzerpreis der Stadt München, den Paul-Celan-Preis und das Bundesverdienstkreuz.

Das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse dürfte die Münchnerin vor allem für ihr soziales Engagement erhalten haben – schließlich forcierte sie Mitte der 90er Jahre die Gründung des Deutschen Übersetzerfonds, dessen Präsidentin sie dann zwischen 1997 bis 2009 wurde. Der Fonds vergibt zweimal im Jahr Stipendien für ÜbersetzerInnen, um diese bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Die Mittel dazu stammen von Kulturstiftungen des Bundes und der Länder sowie vom Auswärtigen Amt. „In den Anfangsjahren hatten wir uns vorgenommen, eine Million Mark zusammen zu bekommen“, erinnert sich Rosemarie Tietze. Es klappte: Mittlerweile verfügt der Übersetzerfonds jährlich über mehr als 500.000 Euro. Übersetzerinnen und Übersetzern in Deutschland geht es, trotz „steigenden Selbstwertgefühls“, miserabel – viele brauchen einen Brotberuf. 50 Euro brutto am Tag, das war für Rosemarie Tietze der Durchschnittsverdienst für acht Stunden Übersetzung von Bitow-Prosa und den dazugehörigen Arbeiten.

Zum Russischen kam Rosemarie Tietze nach ihren eigenen Worten „aus Opposition“. Französisch sei die erste Fremdsprache gewesen, direkt vor ihrer Nase habe das Straßburger Münster gestanden. Im Schwarzwald geboren, studierte sie zunächst Thea-terwissenschaft und Germanistik, später kam Slawistik hinzu. Es folgte ein einjähriger Forschungsaufenthalt an der Moskauer Theaterhochschule GITIS, danach ein Zweitstudium am Münchner Sprachen- und Dolmetscherinstitut, wo sie später auch viele Jahre unterrichtete. Auch heute arbeitet die Münchnerin noch als Dozentin, etwa bei Fortbildungsseminaren für Literaturübersetzer ins Deutsche. Voriges Jahr hatte sie eine Gastprofessur an der FU Berlin, und vor zwei Jahren unterrichtete sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.

Rosemarie Tietze hat literarische Übersetzer einmal mit Fährleuten und Brückenbauern verglichen und ihre Arbeit als beschwerliche „Pfadfinderei an der Sprachgrenze“ bezeichnet. Dieser Spürsinn brachte sie auch auf die Fährte von Gaito Gasdanow – den Autor, den die deutschen Leser ohne die Münchner Übersetzerin gar nicht kennen würden. Vielleicht noch berühmter als ihre Gasdanow-Übertragungen ist aber vermutlich Rosemarie Tietzes Neuübersetzung von Tolstois „Anna Karenina“. Zweieinhalb Jahre arbeitete sie an diesem 1200-Seiten-Epos. Mit welcher Leidenschaft und welcher Akribie sei nur an einem Beispiel beleuchtet: Um die Umgangssprache Tolstois nachempfinden und nachformen zu können, hat Rosemarie Tietze unter anderem Fontane gelesen, und zwar den Briefwechsel zwischen Fontane mit seiner Frau. „In ihren Briefen haben sie geschrieben, wie sie geredet haben.“ Und so klingt „Anna Karenina“ dank Rosemarie Tietze für den heutigen deutschen Leser so, als spräche Tolstoi zu uns persönlich.
Ina Kuegler