Es geht um Freiheit, Selbstbestimmtheit, die innere Reflexion, was den Wert des Lebens ausmacht. Julia Jessen, Jahrgang 1974, betrachtet in ihrem Debutroman, der soeben beim Münchner Verlag Antje Kunstmann erschienen ist, das Leben der Ich-Erzählerin Oda in vier Lebenssituationen.

Oda ist fünf und im Garten ihrer Oma, den sie nur bis zum Gartenweg durchmessen darf. Indem sie durch die Hecke des Nachbargartens schlüpft und somit die gesetzte Grenze überlistet, findet sie das erste Mal einen Weg zur Selbstbestimmtheit.

Oda ist sechzehn und auf der Hochzeit ihrer Tante Anneke, bei der sie die Grenzen der Konventionen und ihrer Pubertät zu überwinden sucht. Das Fest findet auf einer Nordseeinsel statt, es ist heiß, eine Schamanin traut das Paar, belustigte Zaungäste begleiten die Hochzeitsgesellschaft, und die Familie ist – wie in so vielen Fällen – uneins, zerstritten, in Einzelgruppen zerfallen. Erst als Oda durch Bewegung, durch Tanz den Schlüssel zur Befreiung ihres Körpers findet gelingt es ihr, ihre Position innerhalb ihrer Familie und der Situation zu akzeptieren.

Oda ist neununddreißig, verheiratet und Mutter, und ringt mit ihrem Mann Ulf um ein zweites Kind. Ulf glaubt dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, und sie weiß nicht, wie sie damit umgehen soll, dass ihr Wunsch nicht befriedigt wird. Auch hier geht es um Bewegung, ums Weggehen, um innere Flucht durch Zuflucht bei Anderen.

Oda ist achtzig und hat ihren geliebten Mann Ulf verloren. Nun haben sich ihre
Bewegungen stark reduziert. Diesen Teil muss ihre Großnichte fortführen. Sie wird Tänzerin, da Oda ihr zurät. Am Ende stirbt Oda an der gleichen Stelle, wo sie als fünfjährige einst stand. Dieses Bild ist als Beginn dem Roman vorausgestellt.

Alle vier Teile des Romans sind ohne genaue Orts- und Zeitangaben. Es sind noch nicht einmal äußere Unterscheidungsmerkmale sichtbar. Beispielsweise sind alle Preise immer in Euro. Dadurch rutschen alle Zeitabschnitte ins Jetzt. Das macht die Kapitel zwar nicht leichter unterscheidbar, aber sie haben dadurch keinen Abstand zum Leser, wirken immer frisch und gleichzeitig.

Julia Jessen findet großartige Bilder innerer Monologe. Gerade die Beschreibungen von Körperlichkeit im Tanz gelingen ihr hervorragend. Und einige plötzliche, schicksalhafte Wendungen halten das Buch in dichter Spannung. Unbedingt lesenswert.

Julia Jessen
Alles wird hell
Roman 288 Seiten, gebunden
Verlag Antje Kunstmann, München 2015
19,95 Euro

Michael Berwanger