Keimzelle des Poetry Slam

Mit dem Club Substanz beginnt eine neue Serie über Orte für Literatur.

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert gilt München als eines der deutschen Zentren für Literatur. Dabei spielen Orte, an denen sie öffentlich dargeboten wird, eine wichtige Rolle als Bindeglied zu Lesern und Publikum. Das „Literaturhaus“ oder das „Lyrik-Kabinett“ sind als Plätze der Literaturvermittlung allgemein bekannt – dabei gibt es noch viele andere Orte unterschiedlicher Größe und Provenienz, die hier in einer neuen Reihe vorgestellt werden sollen.

Vom U-Bahn-Aufgang an der Poccistraße, direkt vor dem KVR, sind es nur ein paar Schritte die Ruppertstraße hinunter bis zum Club Substanz. Hinter dem Windfang öffnet sich ein langgezogener, nur schummrig erleuchteter Schlauch, der sich in die Tiefe des Raums zieht und dessen Ende man nicht zu erkennen meint. Am Boden schwere Holzdielen, unterschiedliche halbhohe Vertäfelung an den Wänden, ein blau gestrichener Plafond mit bunten Blumen, an der ersten Stirnseite der brasilianische Zuckerhut aus Filz und Stoffresten mit der Christus-Statue auf Pappkarton. Die Deko stamme noch von der Fußball-WM 2014, erklärt Tim, einer der Barmänner, aber sie solle bald gewechselt werden.

Links am Tresen vorbei öffnet sich der eigentliche Veranstaltungsraum, rechts ein Flipper-Automat, Turntables zur Linken, dahinter ein abgegrenzter Bereich für die Hausanlage. Auf der Bühne zwei Kicker-Tische, an denen an freien Abenden seit über zwanzig Jahren Kicker gespielt wird. Hier ist 1860er-Land. Zwei Langtische am Anfang und ein paar Stehtische seitlich begrenzen eine imaginäre Tanzfläche. Das Publikum ist gemischt – Studenten, Anwohner aus dem Schlachthofviertel, Stammgäste aus der Gründungszeit des Substanz, die schon seit 1994 hierher pilgern.

Der legendäre Rundfunk-Journalist, Autor und Regisseur Karl Bruckmaier war 1993 im New Yorker Nuyorican Poets Cafe begeistert dem noch jungen Literaturformat Poetry Slam begegnet, eine Performance-Schlacht zwischen Poeten, die mit Einsatz aller Körperteile ihre Poems vortragen. Alles ist im Prinzip erlaubt außer Instrumente oder Requisiten. Das Zeitfenster ist dabei bewusst kurz gewählt – meist fünf Minuten – am Ende entscheidet das Publikum über einen Tagessieger. Dabei ist der Wettkampf nicht so wichtig, er dient nur dazu, das Publikum zu fesseln. Denn als Preis winken meist nur Kleinigkeiten – ein T-Shirt, eine Flasche Schnaps. Diese Literaturform war in den späten 80er Jahren aus der Spoken-Word Bewegung hervorgegangen.

1994 initiierte Karl Bruckmaier den ersten Poetry Slam unter dem Namen Literaturslam in Deutschland – im Substanz. Parallel entstand im Berliner Club Ex’n’Pop ein ähnliches Format durch Wolf Hogekamp, der dort immer noch in der Szene verankert ist. Bruckmaier allerdings zog sich bald wieder zurück. Er hatte versucht, die Literaten, die er vom BR kannte, wie Thomas Meinecke, Franz Dobler oder Thomas Palzer in den Literaturslam einzubinden, musste aber feststellen, dass sich die gesetzte Leseform der Etablierten nicht mit der Vortragsexplosion junger Slamer vertrug. Von Monat zu Monat wurde das Publikum jünger und die Leute mit denen er gern ein Bier trinken würde – wie er sagt – immer weniger. Der Poetry Slam hat die Zeiten locker überstanden. Heute wird er Deutschlandweit an ca. 130 Orten ausgetragen und mündet jährlich im National Poetry Slam. Neue Namen sind heute die Macher. Bas Böttcher in Berlin, Franziska Holzheimer in Frankfurt/Main oder Fatima Mamouni im Regensburger Leeren Beutel. Und Ko Bylansky in München und immer noch im Substanz.

Das Substanz ist immer voll, es ist heiß, die Leute stehen an Tischen, auf der Tanzfläche, zwischen den Gängen, Getränke gibt es nur an der Bar. Die Luft steht schweißtreibend. Einmal im Monat ist Poetry Slam. Da ist das Publikum jünger, zwischen 18 und 25 etwa. Wie immer treten fünf lokale Poeten aus München und Umgebung gegen fünf ruhmreiche Literaten der nationalen und internationalen Slam-Szene an. Wie immer entscheidet das Publikum per Applaus über seinen Favoriten und kürt den Sieger des Abends. Es herrscht Rock’n’Roll-Atmosphäre und die passende Slam-Musik besorgt DJ Misanthrop an den Turntables. Ko Bylansky, der Veranstalter bahnt sich einen Weg zur Bühne, wo die beiden Kicker verschwunden sind. Im Scheinwerferlicht sieht man die Schweißperlen auf seinem breiten Gesicht. Er feuert das Publikum an, das stampft, pfeift und grölt. Er kündigt den ersten Slamer an. Die Boxen schreien überschlagend den Namen, dann wird es still und alle Konzentration wird für fünf Minuten am Mikrofon auf der Bühne gebündelt.
Michael Berwanger