Björn Bickers Text vom religiösen Leben in einer säkularen Gesellschaft

Was glaubt ihr denn, fragt Björn Bicker uns, seine Leser. Eine Frage ohne Fragezeichen in den Raum gesprochen, eine ambivalente, aufmüpfige Frage. Eine Frage, der man die in die Hüften gestemmten Hände anhört. Was glaubt ihr denn, wer ihr seid. Wer wir sind. Der man mit unterschiedlicher Betonung verschiedene Bedeutungen geben kann. Ja, was glauben wir denn. Glauben wir an einen Gott, und gleich nachgeschoben, an welchen bitte. Das ist die Frage, über die alle reden, wenn sie über Religion reden. Björn Bicker ist ihr nachgegangen, hat sich im religiösen Leben unserer Städte umgesehen, umgehört, hat daraus zunächst das Theaterstück Urban Prayers entwickelt. Aus einer langen Recherche ist ein Text entstanden, der eine Sprache sucht für die vielen Stimmen der Wirklichkeit. Der diese Sprache einem Chor in den Mund legt, dem Chor der Gläubigen, der sich in unserer säkularen Gesellschaft vielstimmig zu Wort meldet, sich ins Wort fällt, widerspricht, mit tausend Zungen redet, mal schneller, mal langsamer, mal alle zusammen, mal jeder für sich, mal gegeneinander, mal miteinander.

Ein Text, der auf der Bühne eindrucksvoll zu inszenieren ist, der aber auch in der Buchform, wie sie jetzt von Bicker vorgelegt wurde, einen großartigen Raum gefunden hat. Einen Raum voller Wahrheiten, bestürzender Einsichten, Brutalitäten, Zärtlichkeiten, einen Raum, in dem alles zur Sprache gebracht wird, was durch den Zuzug der vielen Flüchtlinge in Bewegung geraten ist, in dem der Chor der gläubigen Bürger Geschichten vom Beten und Bezahlen erzählt, vom Helfen und Heilen, vom Anfangen, Bauen, Heiraten und Wählen. Wir stehen in der Fußgängerzone, sagen die Neuankömmlinge. Wir dürfen in der Fußgängerzone stehen, vergewissern sie sich. In diesem Land dürfen wir in der Fußgängerzone stehen, steigern sie sich aus der anfänglichen Zaghaftigkeit in die Selbstbewusstheit. Wir singen, rufen sie sich zu. Wir singen laut. Wir singen laut jeden Tag. Und immer gibt es welche, die dagegen sind, die protestieren, die in dem ungeheuren Strom der Gläubigen in eine andere Richtung streben. Sie beten. Das stört die Nachbarn. Das stört die Nachbarn massiv. Das stört die Nachbarn so massiv, dass sie geklagt haben.

Aus diesem Chor treten fünf Personen hervor, nicht namentlich genannt, aber mit ihrer Profession, der Architekt mit türkischen Wurzeln, der Sozialarbeiter, der dem Pfarrer aus dem Kongo begegnet, der DHL-Bote, der mit einem Sikh zusammenarbeitet, die Journalistin, die eine Jüdin interviewt, die Religionslehrerin, die nicht mehr weiß, warum sie diesen Beruf gewählt hat. In ihren Geschichten sind sie miteinander verbunden, auf subtile Weise verändern sie sich durch die Begegnungen. Schlicht, lapidar, dramatisch hat Bicker seine Gemengelage von Personen, Meinungen, Ansichten, Handlungen, Standpunkten zu einem poetischen Text verdichtet, ihm Wahrhaftigkeit verliehen, aus dem Vielerlei Einmaligkeit destil-liert, die Wucht des Themas in eine zarte, spröde Leichtigkeit überführt.

Die Bilder von Andrea Huber versetzen uns in die Peripherie Münchens, dort wo sich der größte Teil der Gebetsräume befindet, in Fabrikhallen, Garagen, Hinterhöfe, in ein baufälliges Haus in der Machtlfinger Straße, in dem Orthodoxe, Moslems, Sikhs, Togoleser, Afghanen friedlich nebeneinander koexistieren. Sie zeigen den Aberwitz, der dem allen innewohnt, aber auch das Verbindende, das den Glauben an einen Gott prägt. Nicht zu wissen, dass es ihn wirklich gibt, aber daran zu glauben.
Katrina Behrend Lesch

Björn Bicker
Was glaubt ihr denn
Bilder von Andrea Huber
Verlag Antje Kunstmann, München 2016
24,95 Euro