Von Isa Bellini

Ob sein Nachname ein Pseudonym sei – er hieß Friedhelm Triebhafer –  oder ob ihn dieser Name zum Studium der Botanik angeregt hätte, wurde er während seiner 30jährigen Dienstzeit im Botanischen Institut Unterwiesenfeld immer wieder gefragt, was er jedoch aufs heftigste zu verneinen wusste, da er es genau erinnerte, dass es seine Mutter gewesen war, die ihm zum Studium der Pflanzen geraten hatte. Sie wolle nicht, dass seine edlen Hände, den Medizinern gleich, „im Fleische wühlten“. So dankte er ihr den Beruf des Sachkundigen für Gräser an extremen Trockenstandorten, genauer gesagt, des Steppen- und Wüstenbotanikers, weswegen seine Kennt-nisse für seine voralpenländische Wirkungsstätte eher weniger von Belang waren. Umso mehr konnte er sich ganz und gar seinen Gräsern hingeben. Nichts störte seine hingebungsvolle Leidenschaft für diese zartgliedrigen, zerbrechlichen Wesen, bis eines gewöhnlichen Morgens Unerwartetes in sein Leben trat – eine Sekretärin – genauer gesagt, die seines Kollegen. Dieser, vorübergehend dienstunfähig wegen Weichteilverbrennungen, zugezogen beim Überklettern eines geladenen Weidezaunes mit Blick auf einen „Zweikeimblättrigen Wiesenbocksbart“, auch „Tragopogon pratensis“, – Berufsrisiko der Grünlandbotaniker – erkannte er mit leichter Schadenfreude. Während Friedhelm Triebhafer im Begriffe war, die Form der Blattspreite des „Holcus lanatur“, des „Wolligen Honiggrases“, zu vermessen, öffnete sich nach zartem Klopfen die Türe und Fräulein Sumser füllte den Raum. Sofort war die Luft – seine Lungenflügel hoben und senkten sich, um diesem Phänomen analytisch habhaft zu werden – erfüllt von einem weitaus süßlicherem Duft, als es das Honiggras je vermocht hätte. Es schraubte ihn hinaus aus seinem Drehsessel, ihr entgegen und viel zu nah, so dass er nicht nur der A- und B-Note gewahr wurde, sondern auch des leichten, mit einer süßherben Komponente versehenen, Achselschweißes. Während er ihr fest in die Augen sah, um sich an ihnen festzuhalten, musste er ertragen, wie Hypophyse und seine ganz konkrete Mitte korrespondierten, was er seit seiner Pubertät zu vermeiden wusste. In der fahlen Farbe ihres, nach oben gebürsteten Haares erkannte er sofort die Verwandtschaft mit „Bromus inermis“, der sogenannten „Wehrlosen Trespe“, was ihn ermutigte. Ein kontinentales Steppengras, das auf warmen trockenen Sandböden gedeiht, doch landwirtschaftlich geringere Bedeutung genießt, was ihn aber nicht störte; er bot ihr Platz an.

Block und Stift gezückt sah sie ihn erwartungsvoll an. Darauf war er nicht vorbereitet. Auch die Beine hatte sie nicht übereinander geschlagen, wie er dachte, dass es Sekretärinnen grundsätzlich tun würden, nein, sie waren ordentlich parallel nebeneinander gestellt, aber eben doch nicht ganz dicht nebeneinander. Der kleine Abstand verursachte ein Absenken des leichten, orangeroten Röckchens, eine Mulde, oder besser gesagt, einen horizontalen Graben der weiß Gott wo hinführte, in irgendeine heiße, abgelegene Steppe oder gar Feuchtzone, mit weiß Gott welchem standorttypischen Bewuchs. Er hörte das Blut in den Ohren rauschen und pochen, vor den Pupillen flimmerten orangerote Pünktchen. Auf seinen Sessel fallend rollte er zurück hinter den Schreibtisch. Er räusperte sich mehrmals, fingerte in seinen Papieren, sah zu ihr auf.

Der Glanz ihrer Augen, ließ ihn das „Glanzlieschgras“ wählen, „Phleum Phleoides, boehmeri“, diktierte er, „Gesellschaft Trockenrasen. Zunächst die allgemeinen Merkmale, Fräulein – hm – Summmser“, raunte er und zerdröselte unversehens nicht nur zwei stattliche Exemplare des „Wolligen Honiggrases“, sondern auch bereits das „Lieschgräslein“ vor ihren, wie ihm schien, vor Interesse geweiteten Pupillen und erröteten Lidern. „Die allgemeinen Merkmale für die Bestimmung in nichtblühendem Zustand befinden sich am Blatt, das durch die Blattscheide und Blattspreite gebildet wird. Die Scheide umhüllt den Halm und kann kahl oder behaart, glatt oder rau“, er sah sie fragend an – er glaubte eine Träne zu entdecken – „und in selteneren Fällen“, seine Stimme wurde forscher, „gerieft sein, Klammer auf, Flutender Schwaden, Klammer zu. Sie ist meist offen“, er blähte leicht die Nasenflügel, „die Ränder greifen dann etwas übereinander, bei einigen Gräsern ist sie geschlossen. Während die Scheide bei den meisten Gräsern den Trieb eng umschließt“, er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, „ist sie bei einigen wenigen Arten aufgeblasen“.

Fräulein Sumser ergab sich einer Niesorgie, er musste unterbrechen. Er übersprang einige nebensächliche Details und ging in medias res, – er betonte – „Merkmale des purpurrot gefärbten Lieschgrases. Ausdauerndes Gras mit kräftigen unterirdischen Ausläufern“, er streckte ihr, unter dem Tisch, die Beine entgegen, „Stengel zweischneidig zusammengedrückt“, er setzte sich wieder gerade, „knickig aufsteigend.“ Er räusperte sich, sie nieste. „Blattscheide glatt“,  flüsterte er nun, „der untere Teil oft …“, er machte eine Pause und sah forschend in ihr gerötetes, mittlerweile etwas verwässertes Antlitz, „zottig behaart. Die obere Scheide“, sie hob ungläubig die Augenbrauen, „länger als das Blatt. Spreite schmal, schwach entwickelte Doppelrille, kammförmig gewimpert. Blatthäutchen zart weiß!“. Während er mit Hingabe seinen Text verlas, suchte er mit ebensolcher Inbrunst nach einer Geste seines Gefühls, einem Zeichen seiner Leidenschaft. Sein Blick fiel auf das Sträußchen in der leicht geöffneten Schublade. Der kleine treue Bund aus „Duftender Faltschwaden“, „Rotschwingel“ und „Flutender Schwaden“, auch „Mannaschwaden“ genannt, – nie hätte er gedacht sich davon trennen zu können – das Gebinde, das allmorgendlich seine Fingerspitzen, seine Handinnenflächen liebkoste, in Momenten gesteigerter Erregung sogar, wenn er dem Hemdknopfe nachgab, um sich vom Halsgrübchen bis zum Kinn verwöhnen zu – nein, er durfte nicht weiterdenken. Doch das war der Augenblick, er tauchte in das Blau ihrer Augen, die in Tränen standen, sie also auch! Er sprang auf, streckte ihr das Sträußchen entgegen, eine Tränenflut ergoss sich über ihre Wangen – sie wimmerte – „Hilfe“, dann schriller, „weg damit, meine ‚allergia – erba secca‘, ich, ich – meine Trockengrasallergie!“ Mit einem schluchzenden Aufschrei floh sie den Raum, ihr Stuhl fiel, er fiel über den Stuhl auf das Sträußchen – die Rispen, Ährchen und Träubchen stoben nach allen Seiten – und nun, nun schluchzte auch er. Nach 30 Jahren Treue und intimer Vertrautheit hatte er es verraten und verloren – für immer – und seine Finger umkrampften die bedauerlichen Reste des so innig geliebten Grases.

Die Autorin hat mit diesem – hier leicht gekürzten – Text 2012 den Haidhauser Werkstattpreis gewonnen