Von Paul Holzreiter

Der Himmel ist blau, die Piloten, schick in ihren orangefarbenen Overalls, Deutsche Luftwaffe, die Flieger mögen es, wenn der Himmel blau ist. Wir haben sie heraufgefahren, Hotel Lalibela, Café Lalibela, Kaffee und Kuchen in unserem schicken weißen Zelt „Café Lalibela“, Geräuschkulisse wie Freibad. Der Tisch und die Bänke sind schon mal in einem bayerischen Biergarten gestanden. Ja, sagen die schicken deutschen Piloten in den orangefarbenen Overalls und geben uns recht, klingt tatsächlich wie Freibad, aber sie haben nicht viel Zeit. Piloten haben nie viel Zeit. Wir werden sie wieder hinunterfahren zu ihrem Flugzeug, fünf Mann, eine Transall der Deutschen Luftwaffe. Ein solches Flugzeug, sagen sie uns, sei nichts, was man einfach herumstehen ließe. Aber sie wollten es mal sehen, unser Hotel Lalibela.

Es kostet uns nur ein Fingerschnippen, Anruf bei der Botschaft, Militärattaché, und wir kriegen eine. Sie fliegt uns 7.000 Kilo nach Lalibela, Teff, Milchpulver, Zucker, Öl, Faffa – auch Tische und Bänke aus bayerischen Landen, wenn es denn sein muß. Ich bete es unseren Schwestern vor, was eine Flugstunde kostet – „Warum sagst du uns das immer?“ – 8.000 Mark die Trainingsstunde, 16.000 Mark, wenn das Kontingent an Trainingsstunden aufgebraucht ist. Und dass 1000 Kilo Teff auch 333 Kilo Kerosin kosten, „Jet A-1“. Nur ein Fingerschnippen, aber was verstehen die Schwestern schon von „Jet A-1“? Und von den 16.000 Mark möchten sie gar nichts hören.

Unsere orangenen Gäste werden unruhig. Ich werde sie zu ihrem Flugzeug hinunterfahren. Sie sprechen von „nach Hause fahren“, Addis Abeba oder Diri Dawa, ich weiß gar nicht, wo sie hinfahren wollen. Das Geräusch des Freibades schwillt gerade an. Die anderen Gäste unseres Hotels kommen aus ihren kleinen schwarzen Zelten heraus. Sechs mal am Tag bringen die Mütter ihre Kinder: Dschabati, Disco-Milch, Faffa, Kinder so dünn, man könnte sie mit zwei Fingern hochheben. Und sie schlingen das Essen keineswegs in sich hinein, sie sind zu schwach. Unsere Schwestern achten darauf, dass jedes seine Portion aufisst. Auch die schwarze Folie, aus der die Zelte gemacht sind, hat uns die Luftwaffe eingeflogen.

Lalibela. Was für ein schöner Name! Was für eine Stadt! Ein bißchen schlechtes Wetter würde ihr gut tun. Alles so braun und ausgetrocknet. Diese Kirchen! Sankt Emanuel, Sankt Georg und Golgatha mit dem Grab von König Lalibela. Kirchen direkt aus dem Fels herausgehauen, aber die Piloten müssen zu ihrem Flugzeug. Die Popen in ihren schweren bunten Roben, wie sie uns besuchen und uns segnen mit ihren goldenen Kreuzen, uns und unsere kleine Stadt aus schwarzen Zelten. Und Kaffee trinken und Kuchen essen und sich wohlfühlen auf unserem bayerischen Biergestühl. Die Ministranten, wie sie vor dem Zelt warten, prunkvoll-zeremonielle Sonnenschirme in Händen und nicht wissend, wie sie ihre Kuchenteller halten sollen. Wir haben auch die Popen befragt zu unseren Prozenten, aber für das Praktische im Leben sind sie nicht zuständig, nicht für den Hunger, nicht für den Jammer der Mütter und auch nicht für die Prozente in unserer Tabelle. Oh, sie haben leidlich englisch gesprochen und wir haben uns geschämt für unser Amharisch. Wie sie gewogen werden, die Kinder, und gemessen. Wie sie ihre Bändchen kriegen ans Handgelenk, fälschungssicher. Dass sie alle dünn sind und dass man sie am liebsten alle dabehalten möchte. 75 Prozent sieht schrecklich aus, aber es gibt noch dünnere. Solche, die an den Tropf müssen, weil sie nichts mehr essen können. Wenn die Nächte kalt sind, dann sterben sie. Dann sehen wir am Morgen die Totengräber. Aber auf der Bahre da liegt gar nichts, in den Tüchern da ist überhaupt nichts drin, ein totes Kind so dünn wie ein Blatt Papier, ein Nichts.

Freitags wird gemessen und gewogen. Freitag ist unser Schicksalstag. Die Dünnen kommen, die Dicken müssen gehen. Es wird nicht viel geweint an unserem Schicksalstag, die Äthiopier sind ein tapferes Volk. Die Bändchen werden abgemacht, Bändchen von der Mutter, Bändchen vom Kind, ein Fresspaket, so groß, dass die Frau es kaum tragen kann, dann müssen sie gehen. 85 Prozent ist nicht wirklich dick. 85 Prozent sind gerade gut genug zum Überleben, mehr nicht. Die Zahlen stehen in der Fachliteratur, „Famine Relieve Management“, 100 Prozent, was ein Kind wiegen sollte, wenn es so und so groß ist, gefolgt von den Symptomen, wenn es zu wenig zu essen kriegt und die Zahlen immer kleiner werden. Ruckzuck werden die Kinder gemessen und gewogen. Ein Freitagmorgen und wir haben sie alle durch. Die Tabelle haben wir im Kopf. „Schön dick geworden, Kindchen!“, schnipp-schnipp die Bändchen, das Freßpaket, „tut uns leid, ihr beide, aber die richtig Dünnen warten schon draußen vor dem Tor, 75 Prozent und weniger“, und wir können ihnen nicht einmal alles Gute wünschen, weil wir ihre Sprache nicht sprechen. Und schämen uns ein wenig für die Wachmänner, die wir bezahlen, diese abgerissenen Gestalten mit den Knüppeln, die sie jetzt zum Ausgang begleiten werden.

600 Kinder und jeweils ein Elternteil, mehr Platz ist nicht in unserem Hotel. Der Lärm schwillt gerade an. Unsere orangenen Piloten wollen zu ihrem Flugzeug gefahren werden. Es gibt ein Geschrei. Die Leute laufen zusammen. Unsere Maria schreit. Was ist denn los, Maria? Sie ist die berühmteste Krankenschwester von ganz Äthiopien. Und auch die berühmteste Krankenschwester von Bayern. Die Bild-Zeitung hat schon mal eine Heilige aus ihr gemacht. Sie schreit. Sie ist zornig. Sie schimpft mit einer Frau, die sich schämt – ein Häufchen Elend. Auf den Armen trägt die heilige Maria ein Kind, das leblos an ihr herunterhängt, die lächerlichen Arme, die Beine mit den dicken Knien, der Kopf hintüber. Die Lippen sind hochgezogen, so dass es einen anzugrinsen scheint. Aber die Piloten müssen zu ihrem Flugzeug.

Die Straße ist staubig, die Piloten sind schweigsam. Ich fahre sie hinunter zu ihrem Flugzeug. Es ist alles so kompliziert und schwer zu durchschauen. Was wissen diese Männer schon von unseren Prozenten und wo genau der Teufel darin versteckt ist? Die heilige Maria kennen sie aus der Zeitung. Die Männer sperren ihr Flugzeug auf. Mein Gott, denke ich, 5.000 Pferdestärken links und 5.000 Pferdestärken rechts und sie sperren es auf wie unsereins seinen Golf Diesel. Wieso sie denn so geschrien hat, wollen sie wissen, die heilige Maria?

„Die Frau hat ihr Kind verhungern lassen!“
„Was?!“

Es ist schwer zu begreifen, aber manchmal verstecken die Frauen ihre Kinder und bringen sie nicht zu den Fütterungen.

„Das Kind ist die Eintrittskarte zu unserem Hotel. Wenn das Kind zu dick wird …“
„Ja“, sagen die Piloten, „aber …“
„Nein“, sage ich, „die Frau kann weder lesen noch schreiben. Sie hat von unseren Prozenten keine Ahnung.“

Die Männer fahren nach Hause, Addis Abeba oder Diri Dawa, ich habe zu
fragen vergessen. 5.000 PS links und 5.000 PS rechts, Start einer Transall auf 700 Metern Schotter, man muß das gesehen haben.