Die Literatur als Seismograf kommender politischer Unruhen – Jürgen Wertheimer und sein „Projekt Cassandra“

Von Michael Berwanger

In den letzten Monaten konnte man erleben, welchen Stellenwert die Kultur auf den politischen Entscheidungsebenen hat: Theater werden in einem Atemzug genannt mit Spaßbädern und Bordellen. Die Literatur wird nicht viel besser bedacht. Lesen gilt landläufig als Zeitvertreib für den Sommerurlaub am Strand oder für lange Abende auf der Couch bei Kaminfeuer. Selbst innerhalb des Literaturbetriebs kämen nur wenige auf die Idee, Romane als Fingerzeig auf zukünftige politische Veränderungen zu sehen – ja sogar als Instrument für Vorhersagen, die sich wissenschaftlich verwerten ließen.

Jürgen Wertheimer, geboren in München, emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Uni Tübingen, hat diese Haltung schon immer gestört. Wenn Krisenstäbe zusammentreten, wenn Unruhen wissenschaftlich bewertet werden sollen, wenn sich ThinkTanks zu kritischen Fragen bilden, werden Soziologie, Politik- und Geschichtswissenschaft selbstverständlich frequentiert. Kulturelle Aspekte bleiben meist außen vor, die Literaturwissenschaft wird nicht gefragt – zu weich, zu unscharf, zu persönlich. Dabei spiegeln sich gesellschaftliche Entwicklungen dort am genauesten – an den persönlichen Befindlichkeiten einzelner Personen: „Autoren haben ja die Eigenart, dass sie genau hinschauen, dass sie ungeschminkte Bilder von Wirklichkeiten zeigen, wie sie sich für einzelne Personen darstellen: wie die leben, wie die denken, wie die fühlen“. Für Jürgen Wertheimer ist es der entscheidende Punkt, vom Individuum und nicht von den großen Theorien auszugehen: „Weg von den glatten Theoremen, weg von den Eindeutigkeiten, hin zu den Widersprüchlichkeiten, zu den Ambivalenzen, zu den Grauzonen des Menschen wie der Systeme. Und da wird’s kompliziert, da wird’s uneindeutig und da wird’s verdammt realistisch.“ Leider werde die Literaturwissenschaft in politischen Gremien als Medium der Erkenntnis nicht wirklich ernst genommen, da Ambivalenzen den glatten Ablauf störten und nicht eindeutig zuzuordnen seien. Dazu komme noch die Ansicht, dass Schreibende Querulanten seien, Leute, die nicht so schnell nachgäben, sondern bei ihren Beobachtungen blieben. Solche insistenten Haltungen seien aber weder bei Gremien noch bei Autokratien besonders angesehen.

2017 hatte Jürgen Wertheimer daher das „Projekt Cassandra – Krisenfrüherkennung durch Literaturauswertung“ gegründet. Eine Projektgruppe, bestehend aus drei Personen in Tübingen und einem Netzwerk von Autor*innen, universitären Mitarbeiter*innen sowie Mittelsleuten an vielen Orten, an denen politisch-tektonische Verschiebungen aufscheinen, zumeist an den Rändern Europas also, aber auch innerhalb Deutschlands. Sie lesen, schauen und horchen auf literarische Umbrüche, vergleichen aktuelle literarische Ausprägungen mit dem Gestern, um ein kommendes Morgen bewerten zu können. Wertheimer bot und bietet den Erkenntnissgewinn des Projekts verschiedenen Gremien an. Dabei mag auf den ersten Blick erstaunen, dass es ausgerechnet das Bundesministerium für Verteidigung war, das Interesse an der Projektarbeit gezeigt und diese auf drei Jahre gefördert hat. Andererseits hat es eine gewisse Logik, wenn die Landesverteidigung frühzeitig wissen will, wo sich Gefahrenpotentiale auftun. Leider verhallten, laut Wertheimer, die Vorhersagen aus dem Cassandra-Projekt ungehört, was der Schwerfälligkeit des Apparates geschuldet sei. Damit teilt das Projekt sein Schicksal mit dem seiner Namensgeberin: Die Tochter des trojanischen Königs Priamos wird von Apollon wegen deren Schönheit mit der Gabe der Weissagung bedacht. Da Cassandra aber sein Liebeswerben  ablehnt, sorgt Apollon gekränkt dafür, dass ihren Vorhersagen niemand Glauben schenken wird.

Wertheimer wird konkret: Zum Beispiel seien die Serbien-Kriege vorhersehbar gewesen. Und er zeigt sich bis heute genervt darüber, dass man dabei „erstens überrascht und zweitens betroffen“ gewesen sei. Oder Bergkarabach. Wenn man die unübersehbaren Zeichen, die es in der örtlichen Literatur vor Ort gegeben habe, rechtzeitig wahr- und ernstgenommen hätte, hätte man einiges verhindern können. Projekt-Partner in der Region hätten berichtet, dass Bücher vom Markt genommen worden seien, die sich mit den Gemeinsamkeiten der Kulturen beschäftigt hätten. Es seien Bücher mit hohen Auflagen gewesen, die den Mächtigen, die auf Spaltung gezielt hätten, ein Dorn im Auge gewesen seien. Denn Kriegstreiber aller Couleur errechneten sich immer einen Gewinn aus Krieg und Umsturz. Alle anderen könnten dagegen nur verlieren. „Da muss man hellwach sein und alles tun, um nicht wieder überrascht zu werden. Das war ja der Ansatzpunkt für das Projekt. Wenn man die Zeit verstreichen lässt, kann man nur noch schwer intervenieren. Wenn man aber die Zeit nutzen würde, könnte man kommunikativ versuchen, früher Einfluss zu nehmen“, sagt Wertheimer.

Die Zusammenarbeit mit dem Verteidigungsministerium ist – zumindest operativ – beendet. Jürgen Wertheimer hält aber weiterhin an den Kontakten dorthin und auch am Austausch fest. Auch hat er Verbindung zu anderen Ministerien aufgenommen, die ihn zuversichtlich stimmen. Ohnehin habe sich seit Corona die Einstellung in der Öffentlichkeit verändert: „Jetzt merke ich zum ersten Mal, dass etwas sich öffnet und die Leute stärker als früher sagen, da könnte eine Wissensquelle, eine Informationsquelle sein, die wir bisher marginalisiert oder ignoriert haben.“