Verstohlen wischt sich manches Kind den Mund ab, mit dem Ärmel, wenn die Mutter es geküsst hat. Was aber, wenn es die Muse war und nicht die Mutter? Und wenn das Kind kein Kind, sondern ein Lyriker, eine Lyrikerin, ein Fabelwesen also, dünnhäutig, durch Spiegel in andere Welten tretend, trunken von Küssen – Wesen, die man um diese Jahreszeit vermehrt des nachts an S-Bahnhöfen antrifft, in Hotellobbys und Abflughallen, mit zerrauftem Haar und tiefen schwarzen Ringen unter den Augen, „Panda-Augen“, wie die Werbung neuerdings höhnt. Das alles sind Verlierer, deren es viel mehr gibt als Gewinner, und denen hier unbedingt mal ein Röslein gebrochen werden soll – vor allem, wenn man ihnen gerade ein Veilchen geschlagen hat.

Ja, es ist wieder die Zeit der Literaturpreise und Lyrikfestivals, und so haben allein in den vergangenen vier Wochen etwa Christoph Meckel den Hölty-Preis für Lyrik (€ 20.000), der Lyriker Adam Zagajewski den Leopold-Lucas-Preis (€ 50.000) gewonnen, ganz zu schweigen von den Prosaisten wie Jenny Erpenbeck (Thomas-Mann-Preis, € 25.000) Anselm Glück (Oskar-Pastior-Preis, € 40.000) oder Han Kang, die mit dem Roman „Die Vegetarierin“ den Booker-Preis abgeräumt hat (50.000 Pfund). Wir könnten fortfahren mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (€ 10.000) oder dem Berliner Internationalen Literaturpreis (€ 20.000) und wären längst nicht am Ende …

Ganz im Schatten dieser großen Formate hat sich seit 2010 der Lyrikpreis München (Näheres bitte googeln!) eingenistet, der wenig Preisgeld bietet (€ 1.000 für den Sieger) aber einem neugierigen, halbwegs diskussionsbereiten Publikum viele und meist sehr originelle Gedichte, und nach einem knallharten Wettbewerb einen Gewinner und viele, viele Verlierer, die dann in S-Bahnhöfen, Hotellobbys, Abflughallen abhängen, mit Panda-Augen, s. o. Es ist schwer, bei einer Konkurrenz von etwa 500 Einsendungen pro Jahr, drei Vorauswahl-Lesungen und schließlich einem Finale (12. November im Gasteig) als dünnhäutiges Lyrikwesen die Nerven zu behalten, zumal die Kriterien für gute Lyrik unklar sind, schon immer unklar waren. Böse Zungen meinen, aleatorisch.

Tröstlich, dass die Preise aus dem Boden schießen! Ein Politiker, der auf sich hält, spendet einen Preis, und mancher (Preis) verglüht eben schon nach kurzem wieder im Lyrik-All. Der Lyrikpreis München, der sich vom Münchner Literaturbüro gelöst hat und mit drei Vor-Auswahllesungen durch die Stadtteile zieht, verlangt, dass sich der Poet den bohrenden Fragen der Jury (ebenfalls Poeten) stellt, was Metrum, Reim und Inhalt betrifft – und er dann das Urteil kassiert: „ungenügend“, wenn er Pech hat. Da hilft kein Klagen, schon gar nicht vor dem Amtsgericht, da heißt es „Mund abwischen“ und weiterdichten, vielleicht auch wild nach irgendeinem Erdbeermund, egal, irgendwann wird es schon klappen!   W.H.