Christine Wunnickes neuer Roman „Katie“

Von Katrina Behrend Lesch

Im viktorianischen England boomte der Glaube an das Übersinnliche. Medien hatten Popstar-Status, Séancen waren gesellschaftliche Ereignisse, über Klopfzeichen und Tischerücken korrespondierte man mit seinen Lieben im Jenseits. Dass wir uns gleichzeitig im Jahrhundert des großen wissenschaftlichen Aufschwungs befinden scheint kein Widerspruch zu sein. Das Nebeneinander von Theoriebildung und Geisterglaube entwickelte eigene Reize, und denen geht Christine Wunnicke in ihrem neuen Roman leichtfüßig und wahrheitsgemäß nach. Denn tatsächlich gab es jene Florence Cook, das „berühmteste materialisierende Medium in Ost-London“, und es gab William Crookes, veritabler Physiker, Chemiker, Parapsychologe und Herausgeber der Chemical News, der das Thallium entdeckte und radioaktive Strahlung nachweisen konnte. Als bei Florence immer öfter die walisische Piratentochter Katie aus dem 17. Jahrhundert auftaucht, wird er als Gutachter hinzugezogen. Dass er gerade auf der Suche nach dem vierten Aggregatzustand einer „strahlenden Materie“ ist, trifft sich gut – so lassen sich Forschung und Spiritismus in eine inspirierende Gemengelage bringen. Um 1870 stand man auf der Schwelle bahnbrechender Entdeckungen, da kann einem Wissenschaftler eine sich aus Licht materialisierende attraktive junge Frau schon gelegen kommen.

Christine Wunnicke gelingt es, mit ein paar hingetupften Worten Atmosphäre zu schaffen. Florence, eine kränkliche Sechzehnjährige, die nicht den vorgezeichneten Weg eines viktorianischen Frauenlebens gehen und in eine nächsthöhere Gesellschaftsklasse aufsteigen will, folgt der Strategie der Außerordentlichkeit. Das zeigt sich schon an ihrem Arbeitsplatz, einem Schrank. „In den Schrank trat sie hinein, wenn die Gäste bereitsaßen, hier ließ sie sich fesseln und noch einmal fesseln, ihre Zöpfe an die Wandhaken binden, ihren Kopf in Tücher und Schals wickeln, bis sie kaum nicht Luft bekam.“ Langes Warten, Hymnengesang, Dunkelheit, schließlich glaubt man zu sehen, wo eigentlich nichts zu sehen ist. Bin ich eine Schwindlerin, fragt sich Florence einmal, während ihr Vater, der Schriftsetzer ist und sich auf die Akuratesse von Buchstaben und Zeilen verlässt, weiß, „dass seine unmündige Tochter London-Ost und ganz London betrog“… In dieser Ungewissheit der zwischen Trugbild und Beweisbarkeit hin und her schwankenden Realität muss sich der Leser seine eigene Wahrheit suchen.

Auf der anderen Seite der Medaille, im Reich von Wissenschaft und Forschung, bewegt sich Wunnickes Erzählkunst fröhlich-distanziert bis leicht ironisch. Crookes, sein schüchterner Assistent Pratt, seine ewig schwangere Frau Nelly, sie alle lassen sich von Katie, die geisterhaft keck durch London stromert, verführen, besser gesagt, zu sich selbst führen. Sie ist gewissermaßen die Projektionsfläche für deren uneingestandene Bedürfnisse. Crookes, als leicht mürrisch und verkannt beschrieben, gibt endlich seiner eigenen Kreativität und Inspiration Raum und schafft den wissenschaftlichen Durchbruch. Pratt, von der Androgynität Katies bezaubert, entdeckt eigene uneingestandene Neigungen. Und Nelly beginnt sich für etwas anderes zu interessieren als nur die Fortpflanzung.

Wunnicke schreibt, wie sie selbst sagt, Roman-Haikus, eine aufs Äußerste verdichtete Handlung, in der sie die Befindlichkeiten der damaligen Zeit, ihren gesellschaftlichen Status quo ebenso wie ihren geistigen, intellektuellen und individuellen Zustand faktensicher, kunstreich und poetisch miteinander verwebt. Wer sich mehr Gewissheit verschaffen will, muss in den Geschichtsbüchern nachlesen, den anderen bleibt der Zauber der Magie.

Christine Wunnicke
Katie
176 Seiten, gebunden
Berenberg Verlag
Berlin 2017