Von Beate Klepper

Stand Lichtenberg am Fenster, um nach der Jacobi-Uhr oder dem Wetter zu sehen, war dies stets mit einer Art von Vorsicht verbunden. Eine Vorsicht, die sich in seiner immer dem Zimmer zugewandten Schulter zeigte, jederzeit bereit, zurückzuweichen. Tatsächlich ging er oft, wenn ein Bekannter vorbeiging, vom Fenster weg.

»Nicht sowohl um ihm die Mühe einer Verbeugung, als vielmehr mir die Verlegenheit zu ersparen zu sehen, dass er mir keine macht.«

Maria lächelte zwar über diese Bemerkung, doch ließ etwas in ihr nicht locker, das ihr sagte, er mochte schlicht und einfach nicht gesehen werden. Die »Verlegenheit« der versäumten Ehrerbietung eines Bekannten zählte Maria zu den kleineren Übeln, über die Lichtenberg hinwegsehen konnte. Das, was sie an vielen kleinen Zurückhaltungen und Empfindlichkeiten, besonders während und nach seiner Krankheit, an ihm erspähte, nahm zu. Zweifellos, so war es. Seine Art, engere Bekannte höflich aber bestimmt, den Busenfreund Dieterich auch unverblümt hinauszukomplimentieren, war deutlich.

Jetzt gerade hielt er sich seinen Assistenten vom Leib, der über den schlechten Zustand eines Gerätes schimpfte, und als Maria Lichtenberg die Halsbinde umlegte, flirrte fast unmerklich ein ungeduldiges Zucken über seine Lippen. Aber das gehörte zu den verzeihlichen Dingen. Was hieß schon verzeihen? Sie verzieh ihm jede Ungeduld. Doch was ließ ihn derart scheu werden? Je offener er ihr gegenüber wurde, desto mehr sah sie seine Verlegenheiten in Anwesenheit anderer Personen.

Es gab die Tage, an denen er ihre Gegenwart und Abwesenheit gleich wenig ertragen konnte. Ein seltsamer Zug, den Maria noch an niemandem beobachtet hatte. In der Albani-Gemeinde konnte man sich solche Eskapaden der Gefühle nicht leisten. Man konnte nur bleiben oder weggehen, so wie sie selbst weggerannt war, als sie die Mutter nicht anhören wollte, die sagte, wie arm sie waren. Es war dies wohl ein Wesenszug der Gebildeten, die in Gedanken lebten und arbeiteten.

Die Nacht war still gewesen, und Maria glaubte, am Abend noch kein Wölkchen gesehen und keinen Windhauch gespürt zu haben. Aber der Himmel braute etwas zusammen, was sich nach Mitternacht lautstark entlud. Das Donnern grummelte durch die Wände in die Schlafkammer, rührte an Lichtenbergs Schlaf, dem die wissenschaftlich hörenden Ohren keine Ruhe mehr gönnten. Gewitter! Es musste – es wollte beobachtet werden!

Vorne im Speisezimmer glimmte noch ein kläglicher Rest Glut im Kamin. Maria stellte den Ofenschirm beiseite, der bei vollem Feuer die stechende Hitze abhielt, rüttelte mit der Feuerzange in der Glut und legte Holz und Späne nach. Lichtenberg hatte seine Unterlagen geholt, breitete die Fensterpolster zurecht und platzierte sich in der Nische, den Blick über die umliegenden Dächer gerichtet auf das Lichtspektakel des Himmels. Das Gewitter zog erst richtig heran, und er war zuversichtlich, dass es direkt auf die Stadt zuhielt. Die Beklemmung, die ihn jedes Mal beim Anblick eines Gewitters erfasste, war nicht zu überspielen, und er hatte nicht mehr vor, seine Angst vor der Naturgewalt zu vertuschen. Es gehörte zu den Obliegenheiten des Naturwissenschaftlers, die Gewitter zu beobachten, und er rang sich den Mut dazu ab, mit dem er die Angst im Zaum hielt. Der Hintersinn, mit dem er die Blitzableiter »Furchtableiter« nannte, war ihm sehr nahe, wenn die harten Donner sein Herz pochen ließen, während Maria bei bester Laune kicherte und ihn mit seiner Angst hänselte.

»Du weißt ja nicht, welche Kraft hinter solch einem Blitz steckt! Er kann mit einem Schlag eine Eiche in zwei Teile hacken, ohne dass sie brennt, ohne dass man eine Schwärzung an ihrem Holz sieht, und trotzdem ist er heiß wie glühendes Eisen.« Seinen Schlafrock zog er am Hals enger, und weiter erzählte er, immer weiter, schweifte ab, um sich abzulenken, vergaß beinahe die Aufzeichnungen.

»Du brauchst mir keine Geschichten zu erzählen. Ich hab keine Angst, und du machst mir auch keine.«

»Ach, Maria, dir brauche ich nichts erzählen, aber mich beruhigt es. So lass mich doch!« Es hatte etwas von der kindlichen Forderung, sich bei Gewitter unter der Schürze der Mutter verstecken zu wollen. Maria hätte ihn reden lassen, sah ihn erwartend an, aber er erzählte nichts mehr.

»Es liegt an meiner Nerven-Schwäche«, sagte er stattdessen lakonisch, den Bleistift noch mit letzten Worten über das Papier führend. Draußen grollte es bereits ununterbrochen.

»Was ist das denn: Nerven-Schwäche?«

»Ach!« Er zuckte die Schultern. »Meine elende Leibes-Konstitution bedingt es, dass ich so unruhig bin, ja ängstlich, keinen an meinem Rücken leiden mag, mich nicht zeigen mag, ewig krank bin …«

Maria zog die Beine auf die Fensternische hoch und schaute stumm. Sie wollte nichts von Krankheit hören! Krankheit bedeutete Gefahr, allein gelassen zu werden. Es waren das alles Dinge, die sie noch nicht ganz verstand: seine Ängste! Und wie lange wird es dauern, ihn ganz zu verstehen? Er hatte zu ihr gesagt: »Wir wissen von unserer Seele wenig und sind sie selbst.« Wie sollte Maria demnach ihn kennen, Georg, ihren Lehrer, ihren Vertrauten, ihren Mann?

Kapitel V/2 aus dem Roman
„Tumult der Seele – Lichtenberg
und Maria Dorothea Stechard“,
Salon Literatur Verlag