Faust im Nacken

Was dürfen oder müssen Gymnasialschüler in der Oberstufe lesen?
Verdirbt oder fördert die Pflichtlektüre die Freude am lebenslangen Lesen?

Der Lehrplan für die Oberstufe bayerischer Gymnasien, Fachbereich Deutsch umfasst in seinen gut zehn Seiten allgemeine Vorgaben zur „sprachlich-literarischen“ und „geistesgeschichtlich-kulturellen Bildung“. Er ist in sechs Kapiteln abgehandelt, wobei das Kapitel „Sich mit Literatur und Sachtexten auseinandersetzen“ eine eher marginale Rolle spielt. Dennoch fordert er von den Schülern „Aufgeschlossenheit für Themen und Stoffe der Literatur“, Erweiterung „kultureller Zusammenhänge“, „Offenheit für Fragen der Ästhetik“, „eine differenzierte Weltsicht“ und „lebenslange Lesebereitschaft“. Das klingt nach hohen Ansprüchen und ausgedehnter Pflichtlektüre. Dabei ist auffällig, dass der Lehrplan – außer zeitgeschichtlichen Eingrenzungen – offenhält, was in der Oberstufe gelesen werden soll. Also ab jetzt nur noch Felicitas Hoppe und Alexander Kluge? Keineswegs!

Strukturelle Vorgaben, eingefahrene Gewohnheiten und Stundenkürzungen haben die Beschäftigung mit Literatur ausgedünnt und die Lektüre auf vorherrschend Traditionelles zurückgedrängt. Außerdem steht im Deutschunterricht der Oberstufe die Schreibtechnik eindeutig im Vordergrund. Dazu kommen noch die Lektürevorschläge des Kultusministeriums, die in deutlicher Mehrheit ältere Autoren bevorzugen. Aber eine Pflichtlektüre ist geblieben: Faust I.

Wenn am 14. September die Schulen in Bayern wieder beginnen, startet der sechste G8-Jahrgang in die Oberstufe der 11. und 12. Klassen, und für knapp 40.000 Schüler wird Deutsch dann wieder zum Pflichtprüfungsfach für das Abitur. Die Umstellung vom G9 auf das G8 im Schuljahr 2009/2010 hat verschiedene Kürzungen mit sich gebracht, was sich aber bis jetzt nicht im Lehrplan widerspiegelt, dafür aber im tatsächlichen Schulalltag. Zum einen wurde das Stundendeputat im Fach Deutsch in der Oberstufe von sechs auf zunächst fünf, später auf vier Wochenstunden verschlankt. Rein rechnerisch eine Verkürzung um ein Drittel. Zum Anderen fehlt ein komplettes Jahr mit gravierenden Auswirkungen nicht nur auf die Stoffmenge. Die Jugendlichen, die dem Abitur entgegen streben, sind ein Jahr jünger als zur G9-Zeit. Ein Jahr das fehlt, um komplexe Prosa-, Lyrik- und Dramenstoffe deutscher und internationaler Literatur durchdringen zu können oder auch zu wollen.

Der Lehrplan für die Oberstufe sieht in Deutsch für alle drei Bereiche – Drama / Prosa / Lyrik – deutsche Werke von der Klassik bis zur Gegenwart vor. Für die 11. Klasse ist deutsche Literatur der Klassik, der Romantik, des Poetischen Realismus und des Naturalismus vorgesehen, also eine Auseinandersetzung mit Werken des 18. und 19. Jahrhunderts. In der 12. Jahrgangsstufe soll dann noch die Literatur von der Jahrhundertwende bis 1945 und von 1945 bis zur Gegenwart „auch im Rückgriff auf Motive und Stoffe früherer Epochen“ behandelt werden. Dabei soll nur ein einziges Werk der Weltliteratur und auch nur „gegebenenfalls“ verglichen werden. Das bedeutet, dass der Schwerpunkt eindeutig auf Klassik und Romantik liegt und sich auf deutsche Literatur beschränkt. Selbst moderne, lebende Schriftsteller sollen nur in Auszügen behandelt und immer mit früheren Epochen gespiegelt werden.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass von früheren Pflichtlektüren nur noch eine übrig geblieben ist. Goethes Faust I wird komplett gelesen, besprochen und diskutiert. Faust II soll in Auszügen gelesen und behandelt werden. Die Freude an etlichen anderen traditionellen Werken hält sich dabei in ähnlichen Grenzen. Goethes „Iphigenie auf Tauris“ oder Fontanes „Effie Briest“ als handlungsarm zu bezeichnen, dürfte für viele geplagte Schüler ein Euphemismus sein. Im gesamten Repertoire der Schullektüre schneidet die Literatur der Schwarzen Romantik bei den Abiturienten am besten ab. „Der Sandmann“ von E.T.A. Hofmann oder „Der Runenberg“ von Ludwig Tieck faszinieren durch ihre Melancholie, dem enthaltenen Eskapismus und der Liebe zur Nacht und zur verwunschenen Natur. Solche Inhalte entsprechen noch am ehesten dem Gefühl der Jugendlichen auf ihrem Sprung zum Erwachsenwerden. Ähnliches kann man auch für die Lektüre des 20. Jahrhunderts sagen. Während Bertolt Brecht eher als Langweiler gilt, genießen Werke von Hesse oder Dürrenmatt durchaus Zuspruch beim jungen Pflichtlesepublikum. Friedrich Dürrenmatt ist spannender zu lesen, und Hermann Hesse trifft mit „Demian“ oder „Der Steppenwolf“ immer noch den Ton für die Ängste Pubertierender.

Während die Literatur von der Jahrhundertwende bis 1945 für das erste Schulhalbjahr der 12. Klasse vorgesehen ist, reicht es in der zweiten Jahreshälfte des Abschlussjahrgangs vielleicht noch für einen Botho Strauß, eine Christa Wolf oder einen Durs Grünbein, und das Schuljahr ist vorbei – besser gesagt das zusammengestauchte Schuljahr. Es sind in der 12. Jahrgangsstufe gerade mal gute sieben Monate bis zum Abitur, und die Deutschlehrer sind froh, wenn sie drei bis vier sogenannte Ganzschriften in der 12. Klasse durchbringen, in der 11. vielleicht sechs bis sieben. Der Rest wird – soweit es die Zeit erlaubt – in Referaten abgehandelt, kursorisch gelesen oder auch nur in Erwähnungen und Empfehlungen angesprochen. Dazu kommen ja noch Beschäftigung mit sprachtheoretischen Texten sowie Auszügen aus philosophischen, kunst- und literaturtheoretischen Schriften.

Doch ein wichtiges Thema steht ganz oben auf der Agenda und damit zeitlich der Lektüre entgegen. Das größere Augenmerk wird im Deutschunterricht der Oberstufe auf die Schreibtechnik gelegt. Seit Jahren beklagen Germanisten den Rückgang dieser Fähigkeit bei den Schülern. Es läge an der geringeren Schreibnotwendigkeit in digitalen Zeiten und an mangelnder Übung. „Wie sollen Kinder gut und verständlich schreiben können, wenn es in den Grundschulen nicht mehr ausreichend geübt und in der Unterstufe nicht konsequent abverlangt wird“, klagen viele Deutschlehrer.

Michael Berwanger

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