Sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr geehrter Herr Staatsanwalt, verehrte Anwesende!

Erlauben Sie, dass ich zu Beginn meines Schlussplädoyers mein Bedauern über die Entlassung meines Verteidigers ausdrücken möchte. Aber sie war dringend erforderlich. Seine fortwährenden Versuche, die hier zur Verhandlung stehende Angelegenheit ausschließlich aus der Perspektive eines schuldlosen Angeklagten darzustellen – er hielt diese Sichtweise wohl für die meine –, die übel riechende Mixtur von Halbwahrheiten über den Tatvorgang, die peinliche Bedrängung der Zeugen der Anklage, seine unhöflich störenden Unterbrechungen bei der Befragung dieser Zeugen durch den Herrn Staatsanwalt, all dies ließ bei mir, der ich mich ausschließlich der Wahrheit verpflichtet fühle, ein immer deutlicher werdendes Unbehagen, um nicht zu sagen, eine wachsende sittliche Empörung aufsteigen, sodass ich nicht umhin konnte, meinen Verteidiger zu entlassen und mit dem Einverständnis des Herrn Vorsitzenden mein Schlussplädoyer selbst zu übernehmen.

Sehr geehrter Herr Vorsitzender, ich will Ihre kostbare Zeit und die der übrigen Anwesenden nicht über Gebühr beanspruchen, glaube aber dennoch, dass meine Position einer eingehenden und wie ich hoffe Verständnis weckenden Darstellung bedarf.

Um es gleich zu Beginn meines Plädoyers deutlich zu machen: Ich bekenne mich schuldig. Ich gestehe meine Schuld. Eine mögliche Verweigerung eines Schuldeingeständnisses meinerseits wäre auch geradezu unsinnig.

Dieses Geständnis findet sein Fundament in meinen anthropologischen und politischen Grundüberzeugungen: Ich habe nach langem Nachdenken die Einsicht gewonnen, dass der Mensch von Natur aus sündhaft, das heißt schuldig ist. Dies wird schon in der ehrwürdigen Schrift, dem sog. „Alten Testament“, auf symbolische Weise dargestellt. Obwohl – Sie kennen die Geschichte, deshalb kann ich mich kurz fassen –, obwohl also Adam ein paradiesisches Leben führte, zwang ihn eine unbestimmte Neigung, um eine Gefährtin zu bitten. Und als ihm sein Herr diese zugestand, veranlasste ihn wieder eine Neigung, letztlich wissen wir nicht so recht warum, von der verbotenen Frucht zu essen, die ihm jene Gefährtin darbot. Diese Handlung wurde mit Recht als Verbotsübertretung mit der Verweisung aus dem Paradies bestraft.

Solche Erzählungen künden uns von der problematischen Natur des Menschen, seinen Neigungen zu folgen und damit – wie weiland Adam – schuldig zu werden. Da auch ich mich meinen Neigungen unterworfen weiß, weiß ich auch um meine Schuld. Nur der Neigungslose, meine Damen und Herren, kann völlig unschuldig sein.

Jedoch, so könnte ein Wohlmeinender einwenden, gehe es hier nicht um die allgemeine Schuldhaftigkeit des Menschen, sondern um eine bestimmte Tat, für die vor diesem Hohen Gericht meine Verantwortung geprüft werden soll.

Ein solcher Einwand, wenn er denn wirklich erhoben werden sollte, basiert auf einem Missverständnis. Wie mich bedeutende Philosophen gelehrt haben, ich beziehe mich besonders auf Aristoteles und Hegel, müssen wir davon ausgehen, dass der Staat a priori gerecht ist. Daraus ist zu schließen, dass auch der Anwalt des Staates nur gerecht handeln kann, mithin auch seine Anklagen gerecht sein müssen. Auf meinen Fall bezogen, bedeutet dies zwingend meine Schuld.

Dabei ist es völlig unerheblich, ob ich Tat wirklich und falls ja unter welchen Umständen begangen habe. Die Tatsache, dass ich hier als Angeklagter stehe, beschuldigt von einem Vertreter des gerechten Staates, beweist ohne jeden vernünftigen Zweifel meine Schuld.

Gestatten Sie mir noch ein letztes Argument: Was muss ein Mensch nicht alles getan haben, um einen solchen Tatverdacht auf sich zu ziehen? Muss ich nicht für mein Verhalten, das diesen Verdacht begründete, die Verantwortung übernehmen? Schließlich und endlich hätte ich doch – in freier Entscheidung – so handeln können, dass nicht einmal der Schatten eines Verdachtes auf mich gefallen wäre.

So komme ich denn zu dem Ergebnis: Nicht die Tat begründet die Schuld, sondern der Verdacht.

Ich hoffe, hohes Gericht, es ist mir gelungen, Sie endgültig von meiner Schuld und demzufolge meiner Verantwortung zu überzeugen: Und deshalb bitte ich um eine angemessene Strafe.

Wolfgang Weinkauf

Aus: „Die Glücksfalle.Mythen und Stories“ ,Salon LiteraturVerlag,München,
mit freundlicher Genehmigung des Verlags