Von Rudolf Freiberger

Wo bin ich? Wo ist sie?“ Er rieb sich den Schlaf aus den Augen, mit der Faust. „Aaaahhhch!“ quoll der erstickende Schrei aus ihm heraus, wie in dem ewig wiederkehrenden Traum ihm sämtliche Zähne aus dem Mund quollen – Hunderte von Zähnen, immer mehr herausfallende Zähne, bis er mit der Angst zu ersticken qualvoll wach wurde. „Mutter! Wo bist du?“ schrie es aus ihm. Die Nachbarn! Es ist mir scheißegal was die Vollidioten denken, in diesem verfluchten Wohnloch in Neuhausen. Ja, ich bin in Tot-Neuhausen, exiliert, fern dem einzigen Menschen, der mir auf dieser Welt geblieben ist. Und jeden Morgen dieselbe Angst! „Ich halte das nicht mehr aus!“ schrie er die dünnen Wände an. „Mutter! Lebst du noch?“ Nein – ich rufe jetzt nicht bei ihr im Saarland an – halb sechs Uhr früh – sie schläft noch. Und warum soll sie plötzlich nicht mehr leben? „Du Volldepp“ schrie er sich an. „Warum kannst du deine alte Mutter nicht einfach sterben lassen? In Frieden gehen lassen? So wie andere Leute auch.“ – Halb sechs – ich stehe auf und fahre sofort zu ihr. 460 Kilometer – in vier Stunden bin ich da.

Nach dem Zähneputzen kam endlich ein klareres Denken: Vier Stunden Bahnfahrt – die ganze Zeit diese Ungewissheit – nicht auszuhalten! Jetzt erst mal Kaffee kochen, Frühstück vielleicht, dann rufe ich sie an. Ich höre ihre Stimme, dann weiß ich: sie lebt! gerettet! Aber – nächste Woche schon hat sie Geburtstag. Wieder so ein vermaledeiter Geburtstag. Der wievielte? 88 wird sie. Unerträglich! Wieder ein Jahr um, wieder ein Jahr näher am –. Ja – und wenn sie nicht ans Telefon geht? Ist sie vielleicht schon … Nein! Nein! Nicht dieses Wort! Das darf nicht kommen! Sie muss leben! Leben! Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da ist! Sie darf nicht – sterben. Jetzt hab ich es gesagt. Soll es mich in Dreiteufelsnamen verfolgen den ganzen Tag. Ich muss – muss! vernünftig werden. Ich lege mich nochmal hin.

Nein, ich hätte mich nicht mehr hinlegen dürfen. Diese verdammte Lähmung! Ich kann mich nicht rühren. Ich müsste mich aufsetzen, dann wüsste ich, dass ich lebe, dass ich nicht im Grab liege. Ich muss die Augen öffnen, ob es hell ist. Wenn es hell ist, liege ich nicht in der Gruft. Da ist es dunkel. Aber ich kann die Augen nicht aufkriegen, die Muskeln gehorchen nicht. Also – doch tot?

„Aaach!“ Der Wutschrei half ihm, sich auf dem verschwitzten Bett aufzusetzen. Es gelang ihm sogar, den brennenden Schweiß aus den Augen zu wischen und – zu atmen. Atmen brachte Erleichterung: Ich lebe. Fast schon sechs Uhr. Es dämmert schon, draußen, wo die Menschen leben.

Licht, Tag – gut. Nein! nicht gut! Aber – besser. Am Nachmittag bringt mich der Zug zu ihr. Wie oft bin ich die Strecke schon gefahren? München-Saarbrücken, München-Saarbrücken…Weiß nicht mehr – zu oft. Also: aufstehen, duschen. Und dann: der Termin beim Psycho. Der alles versteht. Behauptet er. „Wir brauchen alle eine Mutter“ sagt er. Ja, eben! Eben! Aber wenn sie – nicht mehr da ist ?! „Nein! Nein! Nein!“ schrie, schrie es aus ihm heraus. „Das darfst du nicht denken!“ Wütend hämmerten seine Fäuste gegen die Schläfen, gegen die Stirn. „Hör auf, dich zu schlagen! Wie schaust du danach wieder aus? Die Leute denken, du bist im Vollrausch die Treppe runtergefallen, peinlich. Nach draußen gehen, dem Tag ins Gesicht schauen…“ Oh – mein gescheiterter großer Bruder rumort in der Küche. Also lieber hier sitzen bleiben, bis er da draußen fertig ist und in der Arbeit – was er so „Arbeit“ nennt. Sonst gibt es wieder dieselben blöden Streitereien wie immer – wie mit Mutter, immer wenn ich bei ihr bin. Diese fürchterliche Hassliebe. Dr. Mühlenberger meint, ich liebe zu sehr. Nein – er meint: ich kann nicht unterscheiden, zwischen was ich bin und was der andere Mensch, das ‚geliebte Wesen‘ ist. Geliebt, gehasst. Nein – er meint: das Kind in mir kann nicht unterscheiden, wo es aufhört und wo die Mutter anfängt. Verschmelzende Liebe, ohne rettende Grenze zwischen mir und ihr – oder zwischen mir und ihm, wie mit Thomas damals, dann mit Peter; wie mit dem jungen Kollegen im Büro letztes Jahr. Telefon brummt? Oh Gott! Der Claudius! Seine Professur in Kiel hat nicht geklappt. Er fühlt sich nicht mehr wohl in der Fremde, nicht in Spanien, nicht in Finnland, er will nach Hause, der Claudius, vielleicht nach Karlsruhe. Ja – Ruhe, für Karl und all die anderen. Ihm ist vor sechs Wochen die Mutter gestorben. Jetzt zieht es ihn nach Hause, den Claudius, ins Haus der Mutter am liebsten. Sogar mit mir wird er jetzt anhänglich. Neulich blieb er eine geschlagene Stunde bei mir sitzen. Sensationell! Als seine Mutter noch lebte, hatte er höchstens zehn Minuten Zeit, zwischen zwei Zügen am Bahnhof. – Ach so – ach ja: dem ging es genauso wie mir: Kann nicht ohne Mutter leben, aber mit ihr ist es auch die Hölle. Jetzt wo sie … wo er sie nicht mehr hat, kann er anhänglich sein; bei seinem alten Freund Egmont, kennengelernt in der Psychoklinik am Schliersee, dem Paradies der verhinderten Selbstmörder.

Dr. Mühlenberger sagte letzte Woche: Wenn er sich recht erinnere – ja, er wird alt und vergesslich, der Gute – dann habe der Claudius uns zusammengebracht – „ein bleibendes Verdienst“ meinte er. Ironie? Nicht unbedingt; obwohl – bei dem weiß man nie genau, wie man dran ist. Manchmal wird der Alte beinahe rührselig. Mitteilsam! Dann wieder muss ich wochenlang nach einem erlösenden Wort von ihm schmachten. Was mag der für eine Mutter haben? Gehabt haben? Vielleicht versteht der mein Dilemma wirklich; sagte doch glatt: diese Hassliebe zur Mutter, das wäre das eigentlich Verbindende zwischen mir und dem Claudius. Und fügte hinzu: „Der hat doch immer Cello gespielt – das Instrument, das klingt wie die Stimme einer liebevollen Mutter, wenn sie ihr Kind beruhigen will. Sagen Sie ihm, er soll unbedingt wieder Cello spielen, das wird ihm gut tun.“ Das Cello, die Stimme der lieben Mutter – muss wohl immer Alles deuten, so ein Analytiker. Aber wer weiß, vielleicht stimmt’s ja wirklich. So – jetzt steh ich auf!