Anmerkungen zu den Archiv-Aufkäufen der Familie Nadolny

Von Michael Berwanger

Originäre Aufgabe literarischer Archive ist, das kulturelle Erbe einer Nation oder einer Region zu bewahren und zu pflegen. Während sich das Deutsche Literaturarchiv Marbach dem gesamten deutschsprachigen Raum widmet, versucht die Monacensia das literarische Erbe jener Personen zu bewahren, die in München gelebt oder gewirkt haben und deren Literatur für die kulturelle Identität der Stadt und seiner Bevölkerung von Bedeutung ist. Zu diesem Zweck hat die Monacensia, die eine Einrichtung der Münchner Stadtbibliothek ist, fünf Planstellen zuerkannt bekommen, von denen derzeit allerdings nur vier besetzt sind. Archivankäufe, die das „normale“ Jahresbudget übertreffen, müssen vom Stadtrat genehmigt werden. So darf es niemanden wundern, dass Vor- und Nachlässe, die der Monacensia vermacht oder verkauft wurden, oft lange warten müssen, bis sie – katalogisiert – der Öffentlichkeit zugänglich sind.

So ergeht es derzeit auch dem Vorlass, den Sten Nadolny – Autor des Weltbestsellers „Die Entdeckung der Langsamkeit“ – dem Literaturarchiv der Stadt München im März übergeben hat. Dieser gilt als äußerster Glücksfall, da er nicht nur Sten Nadolnys Vorlass umfasst, sondern auch die Nachlässe seiner Eltern Isabella und Burkhard Nadolny.

Der Vorlass sei „von einer geradezu enzyklopädischen Geschlossenheit“, sagt Frank Schmitter, Archivleiter der Monacensia. Er enthalte alle Manuskripte, Entwürfe, Notizen, Reden, die geschlossene Verlagskorrespondenz, zahlreiche biografische Unterlagen aus allen Lebensphasen, Fotos, Rezensionen und die Abschriften von über 2.500 Tonbändern, die Sten Nadolny jeden Tag mit seinen Gedanken und spontanen Gefühlseindrücken besprach. Vollständig erhalten sei auch seine Korrespondenz mit Autoren wie Michael Krüger, Günter Grass, Alexander Kluge, Salman Rushdie, Clemens Meyer und Tilman Spengler. Allein der Briefwechsel mit dem umstrittenen Reformpädagogen Hartmut von Hentig soll mehr als 200 Briefe umfassen.

Sten Nadolny, Jahrgang 1942, wuchs in seinem Elternhaus in Chieming auf. Statt einer kurzzeitigen Anstellung im Schuldienst, verdiente der promovierte Historiker seinen Lebensunterhalt zunächst als Taxifahrer, Vollzugshelfer und Aufnahmeleiter beim Film. Nach seinem literarischen Debüt „Netzkarte“ (1981) gelang ihm mit „Die Entdeckung der Langsamkeit“ (1983), der romanhaften Biografie des Polarforschers John Franklin, ein Sensationserfolg, der in über zwanzig Sprachen übersetzt wurde. In den folgenden Romanen „Selim oder die Gabe der Rede“, „Ein Gott der Frechheit“ und „Weitlings Sommerfrische“ konnte er beständig seine überbordende Lust am Erzählen beweisen.

Schreiben war im Haus Nadolny Bestandteil des Alltags, denn Sten ist Sohn des Schriftsteller-Ehepaars Isabella und Burkhard Nadolny. Isabella wurde 1917 in München geboren. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete sie als Sekretärin in einem Ministerium in Berlin, wo sie ihren Mann, den Schriftsteller Burkhard Nadolny, kennenlernte. Nach dem Krieg zog sie mit ihm in das Sommerhaus ihres Vaters an den Chiemsee und begann 1951 zu schreiben. Besonders ihre unterhaltsamen Familienromane („Ein Baum wächst übers Dach“, „Vergangen wie Rauch“) erreichten hohe Auflagen. Daneben verfasste sie Beiträge für Feuilletons, Erzählungen, Sachbücher und übersetzte weit über hundert belletristische Bücher aus dem Englischen. Sie verstarb 2004.

Ihr Mann, Burkhard Nadolny (1905-1968), Sohn eines hochrangigen Diplomaten, hatte sich gegen den väterlichen Widerstand für das Leben eines freien Schriftstellers entschieden. Er war regelmäßiger Gast bei der Gruppe 47, schrieb Romane („Michael Vagrant“, „Konzert für Fledermäuse“), Erzählungen, Hör- und Fernsehspiele. Seine Bücher fanden zwar Anerkennung in literarischen Kreisen, aber nicht den Weg zum großen Publikum.

Die Nachlässe des Autorenpaars umfassen zahlreiche Manuskripte, Fotos, Gästebücher und Korrespondenzen mit eng befreundeten Autor*innen.

Das gesamte Konvolut liegt derzeit in Berlin, wo Sten Nadolny lebt. Er betrachtet seinen Vorlass und die Nachlässe der Eltern als untrennbar. Die systematische Einarbeitung und Katalogisierung wird allerdings noch ein Weilchen auf sich warten lassen. So hofft die Monacensia, dass die Entmetallisierung (also das Entfernen von Büroklammern etc.) sowie das Vorsortieren noch dieses Jahr stattfinden können. Wie lange es noch dauern wird, bis Auswertung und Katalogisierung erfolgen, darüber wagen die Mitarbeiter*innen im Literaturarchiv der Monacensia derzeit keine Prognose.