Von Walter Brusa

Mein Schlafzimmer ist klein und unveränderlich. Ein Bett, ein Bücherschrank, wahrscheinlich noch ein paar Kleinmöbel, ich weiß es nicht, denn morgens, wenn ich aufstehe, mich im Dunkel oder Halbdunkel mühsam aus dem Bett wälze, sehe ich nichts, nicht nur, weil die Nacht sowohl noch mich selbst als auch das Zimmer umfängt, sondern auch weil Augenlicht und Geist erst ungefähr eine Minute benötigen, um dem zu Unzeiten sich erhebenden Körper zu folgen und sich zu entfalten. Nachts, wenn ich mich zu Bett begebe, ist es dunkel und ich sehe nichts. Ich bewege mich mit der Sicherheit eines Blinden auf den zwei, drei Metern, die Augen haben sich noch nicht an das Dunkel gewöhnt. Ich möchte nichts darauf verwetten, dass nicht irgendjemand eines der Schränkchen entwendet und verkauft hat. Ich sage „irgendjemand“, denn ich wüsste nicht wer, lebe ich doch seit Jahr und Tag allein. So gehe ich denn davon aus, dass sich dieses Zimmer nicht verändert, so wie auch mein einziges Motiv, es aufzusuchen, sich nicht ändert.

Am Kopfende, nach dem Bücherschrank, steht eine Spiegelin. Wir haben uns eigentlich nie betrachtet, denn keiner hat dem anderen etwas zu sagen. Ihre Augen brauchen keine Vorlaufzeit, sie sieht den Schemen, der sich des Morgens von ihr weg und des Nachts auf sie zu bewegt.

Ich gehe ins Badezimmer, knipse das Licht an und schaue in den Spiegel – ein kleines, verlogenes Ding, das mir täglich das Bild eines alten Mannes zeigt, mit immer mehr Falten und immer weniger Haaren, das Bild eines Mannes, den nur soziale Konventionen, Selbsterhaltungstrieb und Gewohnheit dazu treiben, Tag für Tag das gleiche Ritual im immer gleichen Zimmer zu beginnen, und der, abgesehen von Gelderwerb, Nahrungsaufnahme und einer anerzogenen Gewohnheit, keinen Grund sieht, sich der Mühe des Aufstehens zu unterziehen, sofern er nur das Wichtigste hat, nämlich ein interessantes Buch auf dem Nachttisch. Aber so begegnen wir uns in regelmäßigen Abständen, doch er wird mir nicht sympathischer, zeigt er mir doch ungerührt im Zeitraffer, so scheint mir, den menschlichen Verfall. Nur manchmal, wenn unser beider Gesichter voller Rasierschaum sind und die kleinen Unzulänglichkeiten und Makel von einer gnädigen weißen Schicht verdeckt sind, kommt er mir beinahe menschlich vor, und wenn sich Streifen für Streifen der wahre Spiegel seinerseits und der wahre Mensch meinerseits aus dem Schaum heraushäuten, einer Schlange nicht ungleich, die ihre nächtliche Identität allmorgendlich abstreift, um die geschäftige des Tages anzunehmen, dann schauen wir uns wohl manchmal, am Ende der Rasur, mit einem schon fast kameradschaftlichen Blick an, zwinkern uns zu, wobei ich meist das rechte Auge zuknipse, er jedoch das linke, so als suche er trotz aller gerade erst erworbenen Übereinstimmung, dennoch seine Unabhängigkeit durch die Einhaltung solch kleiner Nebensächlichkeiten zu bewahren.

Eines Morgens, ich muss wohl abends vergessen haben, die Rollläden zu schließen, was, mir fällt es erst jetzt auf, ein Argument gegen die eingangs erwähnte Konstanz meines Schlafzimmers ist, eines Morgens, sage ich, stand ich auf, das Zimmer war lichtdurchflutet, und ich stand meiner Spiegelin in nie zuvor dagewesener Art gegenüber. Beide bewegungslos, schauten wir einander an, so als hätten wir uns noch nie zuvor gesehen. Wenig fehlte, und ich hätte mich vorgestellt. Ich ging aus dem Zimmer, drehte wohl ein halbes Dutzend mal den Kopf nach ihr um, wie um das Wunder des Nie-zuvor-Gesehenen festzuhalten, und ließ die Tür offen stehen.

Im Badezimmer das gewohnte Ritual, die stets gleichen misstrauischen Blicke, die versöhnende Rasur, der Spritzer Aftershave und dann das freundschaftliche Zwinkern. Aber dann, ich drehte mich kaum um, hatte die Tür gerade erst geöffnet, da, wie Petrus, verleugnete er mich, und ich sah, sah aus meinen Augenwinkeln, wie er über meinen Kopf hinweg ins Schlafzimmer blickte – und ihr direkt in die Augen. Wie auf Silberfäden, unsichtbar zwischen den beiden gezogen, tanzten ihre Blicke, ihre Gedanken und Unterstellungen hin und her, mich aussparend wie einen blinden Fleck. Blitzschnell drehte ich mich um und schaute ihm in die Augen. Wir waren wieder nur zu dritt. Aber sobald ich mich abwendete, den Schritt zur Tür lenkte, da sah ich deutlich, wie die einfallenden Lichtstrahlen die beiden verbanden, und ich brachte es nicht über mich, diese Verbindung durch ein Schließen der Tür zu unterbrechen.

Sie sprechen miteinander, auch wenn ich nicht da bin. Ich bin glücklich, dies bemerkt zu haben. Und seit diesem Tag sind wir in unserer kleinen Wohnung zu viert, der Spiegel, der alte Mann aus dem Badezimmer, der müde aus dem Schlafzimmer und meine Spiegelin. Erst gestern, ich lag im Bett, erblickte ich auf dem Nachttisch eine Stiftin und beschloss sogleich, sie zu ergreifen und diese bemerkenswerte Geschichte aufzuschreiben.