Das Münchner Literaturbüro feiert seinen 30. Geburtstag mit Lesungen, Büchertagen sowie Werkstatt- und Lyrikpreis

Ein Stuhl, ein Tisch, eine Lampe: Eine junge Frau nimmt Platz, streicht zwei Papierbögen glatt und beginnt vorzulesen. „Heimatliebe“ heißt der Text, eine schnörkellose Geschichte über eine Dreiecksbeziehung. Nach zehn Minuten ist der Vortrag vorbei – so wollen es an diesem Abend die Regularien vom Münchner Literaturbüro (MLB), das zu seiner 1719. Lesung eingeladen hat. 1719 – das dürfte Münchner Rekord sein. Seit 30 Jahren veranstaltet das MLB in Haidhausen (offene) Lesungen, Lyrikwettbewerbe oder Büchertage und gehört damit zu den Säulen des Münchner Literaturbetriebs.

Anders als bei Poetry Slams, bei denen das Publikum per Applaus Noten verteilt, geht es in den MLB-Räumen in der Milchstraße 4 differenzierter zu: Es sind moderierte Lesungen mit Werkstattcharakter, mit noch nicht veröffentlichten Texten im Diskurs mit dem Auditorium. Nach dem Vortrag von Prosa und Lyrik wird sachkundig kritisiert oder gelobt, mal engagiert oder spröde, mal pauschal oder detailverliebt, mal geschäftsmäßig oder humorvoll. „Nehmen Sie die innere Bügelfalte weg“ heißt es da aus dem Auditorium. Oder: „Das sind alles Teflon-Geschichten, da bleibt nix hängen“. Oder: „Das war eine schöne, schlicht erzählte Story“. Knapp 40 ZuhörerInnen sind es bei diesem 1719. Abend, Stammgäste und Newcomer sitzen eng aneinandergereiht auf Klappstühlen, nippen an einem Glas Wein und lauschen den vorgetragenen Texten. „Unser Modell war die Gruppe 47, wir wollten einen basisdemokratischen Umgang mit Literatur“, erinnert sich Petra Lang, langjährige Vorsitzende, und Josef Rohrhofer, derzeit Vorstand des Literaturbüros, ergänzt: „Das entsprach in den frühen 80er Jahren durchaus dem Zeitgeist“ – schließlich entstanden damals Literaturbüros in Freiburg, Hamburg oder Berlin.

Seit 1984 haben Hunderte von bekannten und weniger bekannten Autoren in der Milchstraße gelesen; zu den Renommierten gehören unter anderem Wolfgang Bächler, Wolfgang Koeppen, Herbert Rosendorfer, Asta Scheib, Gerhard Köpf, Christian Enzensberger, Marianne Hofmann, Joseph von Westfalen, Ralf Bönt oder Anton G. Leitner (siehe auch nebenstehenden Kasten). Sie alle saßen auf dem „elektrischen Stuhl“, wie der Platz am Tisch neben dem Moderator scherzhaft genannt wurde. „Die Kritiken im MLB wirken“, sind sich die Organisatoren des Literaturbüros sicher. „Das zeigen die vielen Veröffentlichungen in renommierten Verlagen, Stipendien oder Preise“. Einen (unfreiwillig) bleibenden Eindruck hatte die Milchstraße auch beim Ost-Berliner Ministerium für Sicherheit (MfS) hinterlassen: Ein IM hielt in den Stasi-Akten fest, dass das Geld beim MLB nicht reiche und das Literaturbüro „schlecht organisiert“ sei.

Von „schlechter Organisation“ kann wohl kaum die Rede sein angesichts der Fülle von Lesungen, Wettbewerben, Fachgesprächen, Diskussionen und der Herausgabe etlicher Anthologien und Publikationen, die das MLB – natürlich alles ehrenamtlich – auf die Beine gestellt hat. Schon vor der Gründung des Vereins MLB hatte es im Haidhausen-Museum Werkstattgespräche zwischen 1978 und 1984 gegeben, 1980 folgten die ersten Haidhauser Büchertage – doch in feste Bahnen brachte Gründungsvater Kay Ken Derrick all diese Aktivitäten erst, nachdem das Literaturbüro 1984 ein eingetragener Verein mit einer festen Bleibe in der Milchstraße geworden war, der seitdem vom Kulturreferat des Stadt München finanziell unterstützt wird.

Die Freitagslesungen, die Haidhauser Büchertage, der Haidhauser Werkstattpreis und der Lyrik-Preis München – das sind die inhaltlichen Schwerpunkte, die sich das MLB seit Jahren setzt. Daneben haben das Büro oder seine Protagonisten immer wieder Publikationen und Anthologien herausgebracht, so etwa das „Literatur –Bulletin“, die Zeitschrift „Torso“ oder „Ausser.dem“. Vor vier Jahren erschien der Band „schöneböse Kindheit“, ein Textsammlung von 50 Geschichten aus der Kindheit. Diese Anthologie von MLB-Mitgliedern und anderen Autoren wurde allein in München auf 20 Lesungen vorgestellt. Die Büchertage gingen bislang 27 Mal über die Bühne, gedacht sind sie als Forum für Münchner Kleinverlage, Literaturzeitschriften und Autorengruppen, die sich in Lesungen vorstellen können. Diese Chance genutzt haben unter anderem die SchreiberInnen der Münchner Zeitschrift BISS.

Den Lyrik-Preis München gibt es seit 2010, er wurde ins Leben gerufen von Stein Vaaler, Hans-Karl Fischer und Kristian Kühn. Die Vorrunden laufen in der Milchstraße, die Endausscheidung geht einmal im Jahr im Gasteig über die Bühne, wo eine Fach-Jury den mit 1000 Euro dotierten Lyrik-Preis München vergibt. Dazu erklärt MLB-Vorsitzender Rohrhofer: „Ohne die Förderung durch die Landeshauptstadt München, insbesondere durch das Kulturreferat und durch die Stadtbibliothek sowie die Gasteig GmbH war und wäre die Arbeit des MLB finanziell nicht zu stemmen“.

Während der Lyrik-Preis München in diesem Oktober zum 5. Mal verliehen wird, ist der Werkstattpreis mit dem Moderator Rainer Kegel schon lange volljährig. An elf Offenen Abenden in der Milchstraße wählt das Publikum aus bis zu sechs Beiträgen den Tagessieger, der sich dann mit den weiteren Vorrundenbesten im Gasteig messen muss. Im Vortragsaal der Stadtbibliothek kürt das Auditorium per Stimmzettel den Sieger. Tagessiegerin bei der 1719. Lesung wurde übrigens Miriam Nonnenmacher – ihre Dreiecksgeschichte „Heimatliebe“ fand den größten Beifall. MLB-Tagessieger zu werden, kann Folgen haben: Uwe Tellkamp schaffte das im Jahr 2001, bevor er 2004 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann und 2008 mit „Der Turm“ den Deutschen Buchpreis.
Ina Kuegler