Vom Rand der Klippen schwingen sich die Möwen ins Licht und begrüßen mit ihren Schreien den Tag. […] Am Fuß der Steilwände stakst und stolpert Swoboda über die runden Steine, die dreibeinige Staffelei links geschultert. […] Ein falscher Schrei. Der Maler bleibt stehen und sieht auf. Über der Kante der Kreideküste wachsen im dunstigen Himmel erste Inseln von normannischem Blau. Die Vögel sind verstummt. Sie geben ihre Kreise auf, kippen in den Wind und lassen sich hinaustragen über die See. […] Ein zweiter falscher Schrei. Der Maler blickt nach oben. Der gebauchte Käfer, der über die Kante der Klippen
rutscht, gerät ins Trudeln, fällt, die schwarzen Fühler suchen Halt, in halber Höhe schlagen die langen Hinterbeine gegen einen Vorsprung in der Wand, der Körper prallt ab, stürzt weiter, wird ein Mensch und trifft zwischen den nass schimmernden Gesteinstrümmern auf, die in Sturmfluten aus den Kalkfelsen gebrochen sind.

 

Swoboda, der Maler, war in Zeiten vor seinem Ruhestand Kriminalhauptkommissar in Zungen an der Nelda, einer fiktiven niederbayerischen Kleinstadt nahe der tschechischen Grenze. Nach seiner Pensionierung hat er sich in Les Petites Dalles in der Normandie niedergelassen. Er will sich nicht hineinziehen lassen in die Abgründe einer verbrecherischen Tat, deren Zeuge er gerade geworden ist. Er versucht das Gesehene ungesehen sein zu lassen, wird jedoch als Beobachter des Felsensturzes entdeckt, gejagt und von einem eleganten Latino nicht nur gestellt, sondern auch kaltblütig erschossen.

Das ist nicht das Ende des Romans „Der Fall“ von Gert Heidenreich, sondern der Eingangsplot der ersten elf Seiten. Natürlich erwartet man als Leser, dass es irgendein Schlupfloch, ein Scheintotsein, einen doppelten Boden für den sympathischen Maler geben müßte, aber es gibt nichts davon. Und das macht den Roman – neben den stilistisch einnehmenden Landschaftsbeschreibungen – schon mal bedeutend interessanter, als die sonst gängige
Krimiware.

Noch spannender ist die darauf folgende Teilung der Handlungsstränge in eine reelle und eine fiktive Gegenwart. Wir begleiten zum Einen ein Ermittlerduo – bestehend aus einem französischen Kommissar und einer deutschen Kriminalrätin des BKA – bei ihren Versuchen, den Pfaden internationaler Geldwäschesysteme zu folgen, zum Anderen den Maler Svoboda, der in einer imaginären Ebene allen handelnden Figuren begegnet. Er betrachtet das Treiben von außen, ist aber als Toter nicht geneigt einzugreifen. Letztendlich aber vermischen sich die beiden Welten unmerklich dennoch.

Der Wahlmünchner Gert Heidenreich hat mit seinem soeben erschienen zweiten Kriminalroman die Möglichkeiten dieses Genres deutlich erweitert. Es ist ihm gelungen, eine Jenseitigkeit zu skizzieren, die frei ist von gegenständlicher Paradies- oder Höllenvorstellung. Das feine Netz, das beide Ebenen zwischen Dies- und Jenseits verbindet, ist unaufdringlich, lässt den Leser aber dennoch über Wahrheiten jenseits der Greifbarkeit nachdenken. Dazu kommen noch ein gelungener Plot aus der internationalen Hochfinanz und die leichte Sprache, die die pendelnde Reise zwischen München, Burgund und Normandie nicht nur begleitet, sondern auch bestens bebildert.
Michael Berwanger

Gert Heidenreich
Der Fall
Kriminalroman, gebunden, 320 Seiten
Klett-Cotta, Stuttgart 2014, 19,95 Euro
PS: Gert Heidenreich stellt „Der Fall“ am 13. Oktober (20 Uhr) im Literaturhaus vor