Die Chronik von München wird seit 1845 in Tagebüchern festgehalten

Die acht indischen Elephanten des Zirkus Hagenbeck scheuten auf dem Wege zum Siegesthor in der Ludwigstraße vor der an ihnen vorüberfahrenden Lokomotive, welche den feuerspeienden Drachen trug. Vier derselben rannten trotz der ihnen angelegten Fesseln in die Fürstenstraße, durch dieselbe über den Wittelsbacherplatz durch die Dienerstraße in die Menschenmassen auf dem Residenzplatz, eine furchtbare Panik verbreitend … Wie wir nachträglich erfahren, sollen zwei Frauen, ein Kind und ein älterer Mann todt sein.“ So endete am 31. Juli 1888 die Centanarfeier für König Ludwig I. Dass diese „Elephantenkatastrophe“ so im Detail nachvollzogen werden kann, ist der „Chronik der Stadt München“ zu verdanken: Münchner Stadtgeschichte wird seit dem Jahr 1845 in den sogenannten Diarien bis zum heutigen Tag niedergelegt.

Ulrich von Destouches, der erste der vielen Chronisten, führte seit 1845 auf Initiative Ludwig I. die städtischen Tagebücher und vervollständigte diese nach und nach zurück bis ins Jahr 1818. Eins zu eins war zu berichten über auch die kleinsten Vorfälle und Handlungen, die den Bestand und die Eigentümlichkeit der Kommune betrafen, damit ein wahres Bild der verschiedenen Zeiten entsteht. Wachsendes Geschichtsbewusstsein und das Ende der zentralistischen Regierungsform unter Graf Montgelas 1818 beförderten diese, denn seitdem führen Bayerns Städte und Gemeinden eigene Aufzeichnungen.

Wie aber arbeitet der Chronist von heute? Das Stadtarchiv ist in einem imposanten Verwaltungsbau der Jahre 1911/12 untergebracht. Auf dem Weg durch die weiträumigen Flure wäre man nicht überrascht, auf einen grau gewandeten Stadtschreiber zu treffen. Doch es kommt anders: Die Chronistin ist eine Frau, farbenfroh gekleidet, frisch und unkonventionell. In ihrem Arbeitszimmer in stiller Eintracht eine Skulptur Ludwig I. und eine fernöstliche Teedosensammlung. Die promovierte Historikerin und Volkskundlerin Brigitte Huber spricht gerne über ihre Arbeit: „Meine Tätigkeit ist sehr vielfältig und sieht heute natürlich etwas anders aus als zu Zeiten Destouches“, erklärt sie. Unmöglich sei es, das Alltagsgeschehen einer 1,5 Millionenstadt täglich zu erfassen. Das sei Sache der Zeitungen. „Wichtig ist, mit etwas Abstand Strömungen und Entwicklungen auszumachen, die exemplarisch für München sind und das Lokalkolorit widerspiegeln.“
Zwei Tage pro Woche arbeitet Brigitte Huber an Beiträgen für die laufende Chronik. Dabei werden ausgewählte Themen intensiver behandelt. Seien es Betrachtungen zur besonderen Beziehung von Mensch und Hund in München oder die Sammlung von Hintergrundinformationen zu einer heiklen Personalie. Das sei schon ein sehr persönlicher Blick auf unsere Stadt, aber: „Subjektivität ist erwünscht, Zensur findet nicht statt“. Den Kern der Chronik bilden Beilagen wie etwa Plakate, Fotos, Redemanuskripte. Sie sollen den Blick auf die Vergangenheit objektivieren. Seit Jahren ist Huber auch damit befasst, die Chronik nach und nach in Auszügen im Internet auf dem Portal der Stadt München zu präsentieren. Ein Blick in das Archiv-Magazin beeindruckt: ca. 700 Chronikbände belegen mittlerweile 74 Meter im Regal. Bis heute wird jeder Jahrgang zu einem Buch gebunden, denn „das Internet ist flüchtig“, sagt Huber.

Hubers ganz aktueller Eintrag für den 19. August 2016 beispielsweise behandelt ihren Besuch auf der Großbaustelle Theresienwiese unter Führung des zuständigen Fachreferats der Stadt. Fakten und Zahlen veranschaulichen den Charakter des Oktoberfestes 2016. Ausschank pro Zelt und Tag: bis zu 800 Hektoliter Bier. Besucherzahlen: an Werktagen ca. 200.000, an Samstagen ca. 600.000 in drei Schichten. Nach den terroristisch motivierten Anschlägen der jüngsten Zeit sind die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Münchens einzigartige Chronik umfasst einen Zeitraum von annähernd 200 Jahren, sie wurde gepflegt von rund einem Dutzend Historikern. Pläne, die Arbeit zur Jahrtausendwende einzustellen, schlugen fehl – mit Brigitte Huber hat die Stadt seit 1999 erstmals eine Frau als Chronistin. Die Chronik ist eine reiche Fundgrube. Besucher des Stadtarchivs können nach Herzenslust recherchieren, so mancher München-Roman könnte hier seinen Anfang nehmen …
Stefanie Bürgers

Stadtarchiv, Winzererstr. 68
Mo, Di, Do: 9–18 Uhr; Mi–Fr: 9–12 Uhr.
Bände ab 1917 im Original, ältere verfilmt.
Auszüge im Internet: www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Direktorium/Stadtarchiv/Chronik.html