Eine unendliche Geschichte auf dem falschen Gleis – Nachlese

Von Stefanie Bürgers

Das „Bahnwärter Thiel“ ist vor allem bekannt als angesagter Techno Club. Er liegt in Tatortatmosphäre auf einer der letzten Brachen Münchens in der Nähe der Bahnunterführungen am Schlachthof. Der Zugang in der Tumblinger Straße führt durch einen Torweg an Mauern entlang und unter Containern hindurch, überfrachtet mit Graffiti. Hier geht man nur mit direktem Vorsatz unbeirrt weiter.  An Literatur kein Gedanke und bis zuletzt der Zweifel, richtig zu sein. Kurz vor Entdecken des Zugangs wird man begrüßt von einem kaum zu erkennenden Motorboot, einem ausrangierten U-Bahnwaggon und einer nostalgischen Fotokabine. Das Konvolut an Containern wird auf vielfältige Weise genutzt. Konvolut, so heißt auch das Team, das dort 2019 jeweils am ersten Dienstagabend eines Monats „urbane Narrationen in Schizophonie“ bietet. Katharina Neudorfer, Kilian Kemmer, Erik Weingarten und Marco Böhlandt treten seit 2016 immer wieder mit neuartigen Synthesen aus Text und Instrumentalmusik auf.

Im Inneren des unzugänglich wirkenden Ensembles sitzt das Publikum auf Biergartenstühlen und alten Sofas vor einer kleinen Bühne. Darauf ein winziger Tisch mit Leselampe. Dahinter Seit an Seit zwei Stühle. Der düster gehaltene Raum ist geprägt von einem Sammelsurium der Reminiszenzen  vergangener Jahrzehnte: alte Wohnzimmerlampen, eine Bergbahngondel im Verein mit einer Disko-kugel. Dazu gesellen sich modernste Utensilien der Ton- und Bildtechnik. Denn, der erste Teil des Abends ist jeweils einer „musikalischen“ oder zuweilen auch „musikalisch-cinematographischen“ Lesung gewidmet, unter anderem von Lena Gorelik, Mercedes Lauenstein, Andrea Heuser, Friedrich Ani. Die Autoren lesen – oft auch im Wechsel mit Katharina Neudorfer von Konvolut – deren ausgebildete sonore Stimme den Texten Plastizität verleiht.

Zugleich schafft sie die Distanz, die neben dem Zuhören noch einen Blick für ein cinematographisches Begleitprogramm erlaubt, das Daniel Kluge eindrucksvoll an der stark zergliederten Wand in Szene setzt. Man meint Rückblenden in persönliche Erinnerungen zu begegnen und nicht fremden Bildern. Unter die Stimmen der Lesenden legen sich dazu noch live gespielte, sensibel intonierte Arpeggi des E-Pianos von Kilian Kemmer, gedämpfte einzelne Töne der Trompete von Marco Böhlandt oder ein zarter Synthesizer Klangteppich von Erik Weingarten. Das ist das Selbstverständnis von Konvolut. Literatur sei Klangtext voller Rhythmus, Stimme und Melodie, so verlautet die Homepage. Aus Buchstaben würden Töne. Sie begännen zu leben im Zusammenspiel mit anderen Kunstformen. Auch mit dem Film. Je nach Gemütslage und Text ist das für den „Zu-Schau-Hörer“ zauberhaft bis anstrengend. Aber es wird etwas geboten für 5,- Euro, das die Erwartung in jedem Fall angenehm überrascht. Bei schönem Sommerwetter läuft das Programm im Freien. Die regelmäßig vorbeiratternden Züge lassen die Lesenden immer wieder kurz innehalten.

Der zweite Teil des Abends dreht sich dann um den namengebenden Teil des Programms, „Eine Unendliche Geschichte“, ein Fortsetzungsroman unter Publikumsbeteiligung. Eine originelle Idee. Katharina Neudorfer liest zunächst das vorangegangene Kapitel des Romans vor. Bis zum jeweils nächsten Termin kann dann das Publikum Worte, Sätze, Passagen beisteuern, die auf vorbereitete Zettel notiert werden. Die gesammelten Beiträge werden von Konvolut allerdings selektiv zur Fortsetzung des Romans verwendet. Oft auch nur Fragmente aus einem Beitrag. Dem Publikum wächst eher die Rolle des Inspirators zu, als die eines Co-Autors. Die Zettel werden fotografiert und zusammen mit dem Folgekapitel des Romans vor dem nächsten Zusammentreffen ins Netz gestellt. Aufhänger der Geschichte ist ein Romanfragment aus dem Nachlass eines Freundes, das der namenlose Protagonist fortführt. Doch das basisdemokratische „Work in Progress“ verläuft nicht ohne Komplikationen. Bis zum 2. Juli 2019 hatten die ausufernden Publikumsbeiträge gedroht, die sinnhafte Entwicklung des Werks zu gefährden. Reaktion daraufhin: die zukünftige  und letzte Wendung des Romans wird aus einem „Menüvorschlag“ von Konvolut durch das Publikum gewählt. „Das Projekt des basisdemokratischen Romans ist damit aber nicht gescheitert“, so Katharina Neudorfer. Konvolut folge dem Prinzip des musikalischen Zusammenfließens, keine Ebene sei dominanter als die andere, so die Homepage. Dann müssten wir Konvolut aber doch als den Bahnwärter Thiel verstehen, der am Ende die Weiche stellt. Ein unvermuteter Genius loci.

Weitere Termine: 5. November 2019: Thomas Lang „Freinacht“ und 3. Dezember 2019: Katja Huber „Unterm Nussbaum“

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