In der Ausstellung „Das Wagnis der Öffentlichkeit – Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ setzt das Literaturhaus seine Beschäftigung mit dem Demokratiebegriff fort.

Von Katrina Behrend Lesch

Ich will verstehen“ – das war Hannah Arendt existenziell wichtig. Gewissheit über etwas zu erlangen bestimmte ihr Denken. Dieses unerbittliche Streben zieht sich auch durch das Interview, das Günter Gaus 1964 mit ihr im ZDF führte und in dem alle die Themen angesprochen wurden, die für Arendt eine Rolle spielten. Es ist auf YouTube zu sehen und wurde bisher über eine Million mal angeklickt. Als Hör- und Sehdokument setzt es einen wichtigen Akzent in dieser Ausstellung, die vom Deutschen Historischen Museum in Berlin übernommen wurde und jetzt im Literaturhaus München zu sehen ist. Mit ihrem Untertitel „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ wird auf zwei zentrale Begriffe angespielt, die Arendt für die Beschreibung dieses Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat: „Totale Herrschaft“ und „Banalität des Bösen“. Mithin wurde Hannah Arendt, ihrer eigenen Aussage folgend, von Kuratorin Monika Boll nicht als Philosophin, sondern als politische Denkerin und Intellektuelle in den Mittelpunkt der Ausstellung gestellt, und diese wirkt vor allem durch das, was man sehen und betrachten kann.

So fällt einem zu Beginn des Rundgangs gleich der Satz „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen“ ins Auge, worüber sich trefflich nachdenken lässt. Gleich daran schließt sich Arendts Biografie und Promotionsschrift über Rahel Varnhagen, mit der sie auf den wachsenden Antisemitismus in Deutschland reagierte und sich von der Philosophie zur Politik wandte. Veröffentlichen konnte sie das Buch hier erst 1959, und dass der damalige Piper-Lektor das Wort „Jüdin“ aus dem Untertitel einfach strich, zeigt, wie anhaltend die antisemitische Stimmung hierzulande war – woran sich bis heute leider nichts geändert hat.

Genau das ist es auch, was diese Ausstellung so sehenswert wie anregend macht. Keines der hier in zehn Stationen verhandelten Themen hat an Aktualität verloren, ja, die ist virulenter denn je. Anhand der Exponate, Briefe und Dokumente sowie aus Filmausschnitten und O-Tönen in Hörnischen lässt sich nachvollziehen, wie eigenständig, eigensinnig, oft strittig Hannah Arendts Urteile waren. Sie trat damit für das ein, was sie als „Wagnis der Öffentlichkeit“ bezeichnete, ein Begriff, den sie ihrem Doktorvater Karl Jaspers entliehen hatte. In dem Artikel „Wir Flüchtlinge“, den sie 1943 in der in New York erscheinenden jüdischen Zeitschrift Menorah veröffentlichte, fasste sie ihre eigenen Erfahrungen zusammen. 1940 nach Amerika emigriert, sah sie sich ohne Status, ohne Geld, ohne Rechte – und schrieb vom „Recht auf Rechte haben“. Nachdem sie von Auschwitz erfahren hatte und das Ungeheuerliche zunächst nicht glauben konnte, charakterisierte sie Konzentrations- und Vernichtungslager als die konsequenteste Einrichtung totaler Herrschaft. „Es war“, sagte sie später im Gaus-Interview, „als ob sich der Abgrund geöffnet habe. … Dies hätte nicht geschehen dürfen. Da ist etwas passiert, womit wir alle nicht mehr fertig werden.“

Ins Bild gesetzt wird diese Erschütterung durch eine Filminstallation, die sich quer durch die Ausstellung zieht und gleichsam das Jahrhundert trennt in vor und nach Auschwitz. Sie zeigt auf mehreren Bildschirmen das Video eines Modells des Auschwitz-Krematoriums, das der polnische Bildhauer Mieszylaw Stobierski gefertigt hat. Man sollte sich die Zeit nehmen, sich dem langsamen In-den-Tod-Schreiten der aus etwa 3000 einzelnen Figuren bestehenden Menschenmasse auszuliefern.

Weitere Stationen dokumentieren Arendts erste Erfahrungen im Deutschland der Nachkriegszeit, ihre Einbürgerung als amerikanische Staatsbürgerin, ihre Stellungnahmen zur Aufhebung der Rassentrennung, die als verfehlt zu betrachten sind, zur Studentenbewegung sowohl in Amerika als auch in Deutschland und natürlich die Kontroverse um ihren Bericht „Eichmann in Jerusalem“. Geradezu hintersinnig erscheint die Präsentation der Erstveröffentlichung in der Zeitschrift The New Yorker, in deren Auftrag Hannah Arendt als Beobachterin des Eichmann-Prozesses nach Jerusalem gereist war. Dass man einen solchen Bericht zwischen viel Luxuswerbung eingezwängt publizierte, deuteten viele Leser wohl schon als Provokation. Dass Arendt mit ihrem berühmten Begriff von der „Banalität des Bösen“ Eichmanns Rolle als Organisator und Mitverantwortlichen für die Deportation und Ermordung von Millionen Juden mitnichten schmälern wollte, gehört sicher zu der aufschlussreichsten Erkenntnis dieser Ausstellung.

In der letzten Station zeugen ein paar Gegenstände aus Arendts persönlichem Besitz, ein elegantes Pelzcape, Schmuck, ein Zigarettenetui, dass sie Freude an schönen Dingen hatte. Mit ihrer Minox-Kamera fotografierte sie Verwandte und Freunde. Überhaupt hatte sie, wie Hans Jonas das nannte, ein „Genie für die Freundschaft“, wobei sie sich immer in Beziehung zu Leben und Werk anderer sah. Um in diesem Zusammenhang noch einmal auf das Gaus-Interview zurückzukommen, sagt sie darin abschließend: „Wir schlagen unseren Faden in ein Netz von Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nicht.“ Und fügt mit einem feinen Lächeln hinzu: „Dieses Wagnis ist nur möglich im Vertrauen in die Menschen, ja, im grundsätzlichen Vertrauen auf das Menschliche aller Menschen.“

Begleitveranstaltungen zu dieser Ausstellung siehe Veranstaltungskalender.

„Das Wagnis der Öffentlichkeit – Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“
Ausstellung im Literaturhaus, Salvatorplatz 1
15.10.21-24.4.22, Mo-So 11-18 Uhr, 7/5 € (inkl. Audioguide).