Von Christoph von Nostitz

Neun Jahre bin ich jünger als sie. Das ist bis heute so. Bei unserer ersten Begegnung war sie dreißig, ich einundzwanzig. Damals hatte sie allerdings die These vertreten, ich sei vier Jahre älter als ich. Sie hatte erklärt, das Leben erst zu spüren, seit sie vor dreizehn Jahren der Enge des Alpentals, in dem sie aufgewachsen war, entkommen sei. Daher sei sie eben erst siebzehn, statt dreißig, und ich somit vier Jahre älter als sie.

Nach Abitur und Bundeswehr war ich in ihre Stadt gezogen. Wir waren uns erstmals an den Briefkästen begegnet und tauschten stumme Blicke. Bald wechselten wir erste Worte, wenig später kurze Sätze. Schließlich lachten wir zusammen. Ich spürte ihre Magie – und fühlte Beklommenheit. Wir ließen uns aufeinander ein – sie sich auf mich, ich mich auf sie. Wenn sie aus der Arbeit kam, hielten wir uns bei ihr im Vorderhaus oder in meiner Mansardenwohnung im Rückgebäude auf. Wir redeten und diskutierten endlos, und sahen Filme – am liebsten französische. Sie zeigte mir die Liebe. Es war – sie war der Himmel auf Erden. Was ich für sie war, wusste ich nicht – fragte nie. Nie gingen wir zusammen aus. Nach fünf Semester verschwand sie – war sie plötzlich weggezogen, ohne Ankündigung und Nachricht.

Jahre später traf ich sie zufällig wieder. Mit einem Kollegen saß ich beim Mittagessen, als sie das Lokal betrat – eingehakt bei einem Mann. Der Kollege stand auf, begrüßte den Mann – ein Mandant, wie ich annahm – dann sie. Schließlich trat mein Kollege zur Seite und stellte mich vor. Sofort spürte ich wieder etwas von der einstigen Beklommenheit. Aber viel mehr spürte ich Bewunderung. Ich hatte vergessen, hatte es vielleicht nie geahnt, wie unwiderstehlich sie aussieht. Die Jahre hatten nicht an ihr gezehrt. Im Gegenteil: Der sinnliche Schmelz früherer Jahre, hatte sich mit dem glühenden, dem sprühenden Charm einer souveränen Frau verschworen. Sie begrüßte mich herzlich, erwähnte, mich zu kennen – wir seien Nachbarn gewesen. Mehr sagte sie nicht. Der Mann war eine charismatische Erscheinung – braungebrannt, groß, drahtig, gut zwanzig Jahre älter als sie. Auf dem Weg zurück ins Büro, erwähnte der Kollege die fünf Kindes des Mannes – aus zwei früheren Ehen und einer Beziehung.

Diese Begegnung liegt einige Jahre zurück. Gestern klopfte der Kollege an, um mir, da ich die Frau seines Mandanten kenne, mitzuteilen, der Mandant sei gestorben. Beiläufig erwähnte er Ort und Datum der Trauerfeier.

Ich blocke den Tag im Kalender. Der Tag ist grauer – nicht kalt – trotzdem friere ich. Die Wolken hängen tief. Der See in der Senke liegt bleiern da – der Friedhof am Dorfrand. Ich stelle mich an das Ende der Reihe derer, die kondolieren wollen – und höre Glockengeläut von Kühen auf der nahen Weide. Der Sarg steht in der offenen Aussegnungshalle – von zahllosen Kränzen umrahmt. Jedes der fünf Kinder hat einen eigenen geschickt. Vom Kollegen weiß ich, sie sind heillos verstritten. Auch zum Abschied von der vielleicht einzigen und letzten Gemeinsamkeit, ihrem Vater, haben sie sich nicht einigen können. Bekannte, Kunden, die Bank, der Fischereiverein, der Musikverein, der Bürgermeister haben seiner gedacht und Kränze geschickt. Ich lese die Trauergrüße auf den Schleifen.

Sie steht allein da – auf der Kiesfläche – dem Wind und gelegentlichem Regen ausgesetzt. Keiner steht ihr zur Seite – niemand steht ihr bei. Hinter ihr der aufgebahrte Sarg. Die Reihe der Trauergäste rückt langsam voran, auf sie zu – um zu kondolieren. Später wird sie alle im Landgasthof im Dorf bewirten. Ich werde nicht hingehen. Sie schüttelt Hände, hörte Worte – ich bezweifele, sie vernimmt deren Trost. Sie scheint mir in Trance – bis sie meiner Gewahr wird. Sie nimmt, kaum merkliche, Spannung an. Ich bemerke es. In diesem Moment erinnere ich mich an zwei weitere Begegnung mit ihr – nach der Episode in dem Lokal – hatte sie vergessen. Beide Male haben wir uns zufällig auf der Straße getroffen. Beide Male haben wir uns nicht die Zeit genommen, oder nicht den Mut gehabt, um uns auf ein Gespräch einzulassen. Beide Male, während ich ihr gegenüberstand, habe ich mich gefragt, ob ihr Mann vielleicht von unserer einstigen Liaison weiß? Es wäre mir egal gewesen.

Ich sehe sie weitere Hände schütteln – und ahne, was sie sich fragt: Woher weiß er es? Ich hingegen frage mich: Denkt sie an den einen, den besonderen französischen Film – in schwarz-weiß – und daran, was wir damals glaubten? Wir waren uns damals einig, uns anlässlich von Trauerfeiern ein Leben lang, an den Film zu erinnern: Eine Frau in einer Bluse in Leopardenmuster lässt sich in einem Landgasthof von einem Mann ansprechen. Der Mann kennt die Botschaft des Leopardenmusters – das Signal mutiger Frauen. Sie möchten angesprochen werden. Die Frau erklärt ihm, von einer Beerdigung zu kommen – und danach immer mit einem Mann schlafen zu müssen – um sich zu spüren, um das Leben zu spüren – das Leben zu feiern.

Denkt sie an den Film? Erinnert sie sich daran, was wir damals glaubten?

Die Reihe der Wartenden wird kürzer. Schließlich stehe ich vor ihr – als Letzter. Ich sehe sie an. In ihrer Trauer sieht sie würdevoll aus. Als Frau sieht sie umwerfend aus. Ihre Augen funkelten, ihre Sinne sind wach und konzentriert. Ich halte ihre Hand. Sie legt ihre andere um unserer beider Hände. Erst jetzt, direkt vor ihr, erkenne ich das Leopardenmuster in ihrem Schleier.

„Ich rufe Dich an“, sind meine einzigen Worte.
Sie weiß, ich werde nicht in den Landgasthof kommen.
„Ja. Mach das,“ sind ihre einzigen Worte.

Die Kurzgeschichte erscheint im Frühjahr 2023 in einem Band mit Erzählungen von Christoph von Nostitz.

Bisher hat er unter dem Pseudonym Constantin von Lebour folgende Romane geschrieben: „Vom Jungen, der kein Kind sein wollte“, „Kaleidoskop“ und „Zürich, Frauenbadi“.