Lesen allein ist nicht genug
Reinhard Grüner und seine wunderbaren Künstlerbücher

Die Seiten sind zerfetzt, die Buchstaben kugeln sich, Blätter und Bindfäden klammern sich an die Seiten, monströse Köpfe treten heraus, eine Schraube verschließt Buch und Deckel – das sollen Bücher zum Lesen sein? Nein, es sind Bücher zum Lesen und zum Schauen, Tasten und Er-Fühlen. Reinhard Grüner sammelt Künstlerbücher, sein Schwerpunkt ist Osteuropa. In der Internationalen Jugendbibliothek sind derzeit einige seiner Kunstwerke ausgestellt.

Künstlerbücher sind Kunstwerke in Buchform. Meist liegen sie schon ganz anders in der Hand als „normale“ Bücher. Ein Brett oder ein Holzblock sollten den Bücherliebhaber da nicht gleich aus der Fassung bringen. Wenn es Blätter gibt, muss man mit allem rechnen: mit Klecksen und Falten, Pappfiguren und Maché-Körpern, Muscheln und Sand, Montagen und Collagen, feinsten Zeichnungen und bombastischen Farborgien. Lesen ist nur eine von vielen Aktivitäten, die dem Nutzer hier offen stehen. Die Liste der verarbeiteten Materialien ist unerschöpflich. In der Internationalen Jugendbibliothek gibt es gar ein Buch aus Bleiplatten in einem Korpus aus Bergahorn, der regelmäßig zu befeuchten ist, damit das Moos in den Ritzen nicht austrocknet.

Künstlerbücher eröffnen Möglichkeiten, die man dem Buch zunächst nicht zutraut. Reinhard Grüner hat dieser Zusammenführung von Kunst und Buch, von Bild und Text, von Material und Ausdruck seine ganze Freizeit gewidmet. Frühmorgens macht er sich auf in seine Schule, die er als stellvertretender Direktor leitet, am Nachmittag wartet seine Sammlung schon auf ihn. Regale bis unter die Decke, Bücherstapel bis in die Mitte des Flurs
hinein und nur wenige Quadratmeter für Tisch und Bett – damit müssen er und seine Frau Cornelia Göbel leben. Sie wollen es so, denn Künstlerbücher sind ihre gemeinsame Leidenschaft. Cornelia Göbel hat noch aufgestockt, mit allerlei Eulen, die ihr persönliches Steckenpferd sind und den Sinn der Sammlung ihres Lebensgefährten vortrefflich ergänzen.

Reinhard Grüner ist ein Mensch, der schon immer einen Hang zum Lesen und zum Archivieren hatte. Einer Strategie beim Sammeln hat er sich nicht verschrieben, er steht nicht auf bestimmte Künstler, Richtungen, Konzepte oder Editionen. Es begann am 3. Mai 1976, Grüner studierte in England und war an die Ostküste gefahren. Da fiel ihm eine ganz eigen gestaltete „Abhandlung über das Grillen von Schweinefleisch“ in die Hand. Texte und Bilder fügten sich in einer Weise zusammen, dass „es“ Grüner packte – „es“, die Leidenschaft für das Buch als Kunstwerk. Dabei müssen die Bücher nicht schön im üblichen Sinn sein. Es geht ihm um eine Aussage, eine Botschaft, eine Geschichte. Position zu beziehen, das ist ihm wichtig. Der Text ist Mittel zum Zweck, der aus seiner Sicht ideale Zugang zur Kunst.

Die Werke junger Künstler liegen Grüner besonders am Herzen, oft wartet der Sammler geradezu auf das nächste Werk eines Künstlers, den er schätzt – und irrt sich selten. Viele Künstler kennt er persönlich, auf Messen lernt er neue kennen.

Zum Glück sind Künstlerbücher „weit weg vom Kunstmarkt“, sagt Grüner; sie wären sonst um einiges teurer. Es handelt sich also um echte Liebhaberobjekte, und Grüner würde nie auch nur ein einziges Objekt aus seiner Sammlung vermarkten. Er hängt an jedem Buch, verbindet mit jedem Werk eine Erinnerung. Seine jüngste Erwerbung handelt von „Gevatter Tod“, die Auflage beträgt 150, jedes Buch ist anders gestaltet. Der Tod ist für Grüner, neben der Liebe, ein Thema, das den Menschen begleitet, ein Leben lang. Dieses Thema ist nicht verkäuflich.

Schwerpunkte hat die Sammlung des Schwabingers inzwischen doch, sie haben sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt. Er nennt russische Buchkunst junger, noch lebender Künstler, er nennt die Wendezeit in der DDR, die „freche, aufregende, politische Buchkunst“ hervorgebracht habe. Zum Teil handelt es sich um Untergrundpublikationen, die eine Sehnsucht bezeugen, in der Reinhard Grüner sich wiederfinden kann. Opposition und Kreativität sind Geschwister, und in der DDR durften Bücher eben auch teuer sein, existierte nicht die Werbung als Spielfeld für gestalterische Ideen.

Grüner verweist auf Künstlerbücher aus Litauen, Korea, Frankreich, England, Ungarn, Polen, Tschechien und Mexiko in seiner Sammlung. Sie alle helfen ihm tagtäglich, zur Ruhe zu kommen. Davon will Grüner immer wieder auch seine Mitmenschen überzeugen, in Ausstellungen quer durch Deutschland. Die nächste wird in der Staatlichen Bibliothek in Regensburg stattfinden.
Ulla Sautmann

Die Ausstellung „Löweneckerchen, Gulliver und Ali Baba“ in der Schatzkammer der Internationalen Jugendbibliothek (bis 10. November) ist Mo. bis Fr. von 10 bis 16 Uhr, Sa/So von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Am 6. und 27. Oktober finden jeweils um 15 Uhr Führungen mit Reinhard Grüner statt.