Die Mathematik in der Semitistik erkennen

In der Schule mochte Barbara Linner die Mathematik nicht besonders. Dann aber entdeckte sie, dass die semitischen Sprachen  eine Menge mit Mathematik, aber auch mit Musik und Malerei zu tun haben.

Semitistik, das ist auch Orientalistik, Arabistik, Judaistik und Aramaistik. Zu den semitischen Sprachen gehören Hebräisch, Arabisch und Aramäisch, sie werden in Nordafrika, im Nahen Osten, am Horn von Afrika und in Malta von etwa 400 Millionen Menschen als Mutter- oder Zweitsprache gesprochen. Die Dialekte sind zahlreich, Gaumen- und Kehllaute, Kehlkopfpress- und Knacklaute verwandeln die gesprochene Sprache in Musik, das Schriftbild mit seinen Bögen und Kreisen gemahnt an ein Kunstwerk. Die Kulturen, die sich auf der Basis der semitischen Sprachen entwickelt haben, sind alt und fremd. Wer sich mit Semitistik beschäftigt, sucht das Besondere. Und er muss bereit sein, eine Menge Neues zu lernen.

Beides trifft auf Barbara Linner zu. Bereits in ihrer Schulzeit bereiste sie mit ihrem Vater die Länder, die mit ihren Landschaften, ihren Gerüchen und Lebensweisen so ganz anders waren. Als sie das Abitur in der Tasche hatte, war ihr klar: Ich habe nun die Wahl, ich kann machen, was ich will, es darf nicht langweilig sein. Weil sie gern malte, schrieb sie sich zunächst in der Kunstakademie ein. Aber sie wollte nur Schwarz-Weiß malen, und außerdem war da noch das Interesse an der Musik und an der Mathematik (abseits der Schulmathematik) im Hintergrund. Sie schrieb sich an der LMU ein in Judaistik, Semitistik, Orientalistik und Südosteuropäische Geschichte. Es war, wie sie erzählt, „eine Latte von Zufällen und Neigungen“, die sie zu diesen Fächern brachte. Und sie wollte sie „so gründlich und so lange es geht studieren“.

Doch irgendwann war auch das Studium Geschichte. Nach zwei Jahren an der Universität Jerusalem schloss die Münchnerin es 1984 ab mit der Promotion über das Thema „Die Entwicklung der frühen nationalen Theorien im osteuropäischen Judentum des 19. Jahrhunderts“. Die Dissertation mag als greifbarer Beleg gelten: Geschichte, Kultur, Religion, das sind für sie Bereiche, die zum Studium einer Sprache dazu gehören, wenn man verstehen will.

Bereits ein Jahr später begann die Philologin mit dem Übersetzen, zunächst nebenberuflich. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie in der Gastronomie, in einem Musikverlag, und als Pressesprecherin in der Münchner Stadtverwaltung. Seit 1998 ist sie als haupt- und freiberufliche Übersetzerin tätig, sie arbeitet für den Hanser Verlag, für Luchterhand und Fischer, für Goldmann, Rowohlt und Bertelsmann. Sie hat u.a. die Autor(inn)en Israel Eliraz, Assaf Gavron, David Grossman, Batya Gur, Judith Katzir, Etgar Keret, Jehoschua Kenaz, Aharon Megged und Irvin Yalom übersetzt. In Arbeit sind eine Biografie über „Joske Ereli, Eine Lebensgeschichte“ (Hrsg. Jürgen Beck) und eine Anthologie mit dem Titel „Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen“ mit Werken von jeweils zehn israelischen und deutschen Autoren.

Barbara Linner übersetzt gern, sie frischt ihre Arabisch-Kenntnisse regelmäßig auf, sie bringt ihre Liebe zum bayerischen Dialekt aus Überzeugung ein, sie pflegt Freundschaften mit den Autoren, die sie übersetzt, und sie kann sich begeistert in Sprach-Witz, -Puzzeln und –Rätseln vertiefen – aber langsam und Schritt für Schritt gewinnt sie auch eine kritische Distanz zu ihrem Beruf. Denn das Übersetzen wird „immer unlustiger“, wie sie sagt. In den Verlagen herrsche Chaos, das Personal wechsele, Entscheidungen würden hinausgezögert und dann „mit einer 5-Minuten-Gewinnorientiertheit im Kopf“ gefällt, die Verwaltungsarbeit nehme zu, und die Bezahlung sei mehr als unzureichend. Kaum vorhanden sei auch die so nötige Solidarität der Übersetzer-Kollegen untereinander, zum eigenen Nachteil. Die Frustration über die Arbeitsbedingungen ist unüberhörbar. Die Münchner Übersetzerin lässt offen, was die Konsequenzen sind.
Ursula Sautmann