Anmerkungen zum Boom von Krimis über die „Goldenen Zwanziger“

Von Michael Berwanger

Ein weiter, gepflasterter Platz, Hunderte von Menschen eilen darüber, ein paar Autos, eine Tram. Neben dem Kaufhaus „Jonaß & Co“ erhebt sich die „Rote Burg“, das legendäre Polizeipräsidium am Alexanderplatz in Berlin. Kommissar Gereon Rath steigt aus der Straßenbahn – er trägt Anzug, Gabardine-Mantel, Fedora-Hut –, eilt am Zeitungskiosk vorbei zur „Burg“. So sieht sie aus, die immer wiederkehrende Sequenz aus der spektakulär inszenierten Fernsehserie „Babylon Berlin“, einer Verfilmung, die auf Volker Kutschers  Kriminalroman „Der nasse Fisch“ basiert.

Der enorme Erfolg der Serie um Kommissar Gereon Rath und dessen Sekretärin Charlotte Ritter hat auch die Leselust an historischen Krimis stark beflügelt. Es ist das Flair vergangener Tage und der Glanz der vermeintlich Goldenen Ära, die das lesende wie auch fernsehende Publikum faszinieren. Dazu kommen noch gesellschaftlicher Umbruch und rechtsfreie Räume in der dargestellten Nachkriegszeit sowie das wohlige Gruseln, die Unsicherheit jener Zeit nicht miterlebt zu haben, deren geschichtlicher Ausgang ohnehin bekannt ist. Die glamouröse und opulente Ausstattung der Serie „Babylon Berlin“ schafft den äußeren Rahmen für diese Faszination. Dass dabei die historische Genauigkeit – speziell bei der Kulisse – nicht immer eingehalten werden kann, ist verständlich und scheint niemanden zu stören (der Behrens-Neubau am Alexanderplatz entstand erst 1932). Aber auch die Romanvorlage nimmt es ja mit historischer Stimmigkeit nicht ganz so genau.

Im Kielwasser von Kutschers Erfolg (vor kurzem ist sein achter „Rath“-Krimi erschienen) fluten derzeit neue und ganz
neue Buchproduktionen den Markt, ebenso ältere, die neu aufgelegt wurden. Dazu kommen noch Comics, Hörbücher und Podcasts.

Dass in allen Berlin-Krimis die „Rote Burg“ eine Rolle spielt, ist noch nachvollziehbar, dass sich aber die gesamte Personage Tag und Nacht im „Central-Hotel“ oder im „Moka Efti“ rumtreibt – eines der Berliner 20er-Jahre Szene-Cafés – ist dann doch verwunderlich, konnten sich die meisten einen Besuch dort kaum leisten. Zwar tauchen Armut und Elend in den Romanen durchaus auf, aber sie wirken wie Staffage oder Dekoration.

Besonders enervierend sind die seitenweise „Geschichts-Monologe“. Schon bei Volker Kutscher müssen die Protagonisten ständig geschichtliche Zusammenhänge wiedergeben. Autor und Verlag scheinen davon auszugehen, dass sie es mit historischen Analphabeten als Leser*innen zu tun haben. In der Reihe „Fräulein Gold“ der Berliner Autorin Anne Stern (nicht zu verwechseln mit der preisgekrönten Schweizer Schriftstellerin Anna Stern) sind die Klischees noch stärker gezeichnet. Die ganze Reihe wirkt wie eine „Babylon Berlin“-Kopie. Diesmal mit einem Kommissar North (nicht Rath) und einer Hebamme namens Hulda Gold. Ganze Szenen und Ortsbeschreibungen wirken wie kopiert, bis hin zu den holzschnittartigen Darstellungen der Protagonist*innen.

Deutlich geschickter geht der Historiker Oliver Hilmes in seinen Romanen vor (von ihm gibt es auch Biografien zur Zeitgeschichte). „Das Verschwinden des Dr. Mühe“ zeichnet einen ungelösten Berliner Fall von 1932 nach, bei dem ein beliebter Hausarzt sich als doppelbödige Person entpuppt, die sich hinter der Fassade der Gutbürgerlichkeit verbirgt. Sehr ansprechend ist der Aufbau des Romans, dessen Handlungsstrang an Verhören und Protokollen entlang erzählt wird.

Eine Brücke von Berlin nach München schlägt in diesem Jahr der Kriminalroman „Der falsche Preuße“, den die in Berlin geborene und in München lebende Autorin Uta Seeburg erschaffen hat. Ihr Debut (und Serienauftakt) spielt in München des Jahres 1894 und lässt die Prinzregentenzeit wieder auferstehen. Ausgangspunkt ist eine Sondereinheit bestehend aus dem Preußischen Brigade-Kommandeur Wilhelm von Gryszinski und zwei Münchner Wachtmeistern, die versuchen, mit technischen Neuerungen wie der Verwertung von Finger- und Stiefelabdrücken oder der Tatortfotos, den Fall eines ermordeten Bierbeschauers zu lösen. Dabei lässt uns die Autorin an den Gepflogenheiten des Fin de Siècle teilhaben und dem erstaunten Blick preußischer Untertanen auf die barocke Lebensfülle im königlichen Bayern. Man spürt, dass die Autorin diese Faszination bis heute nachvollziehen kann.

Neu aufgelegt wurden die preisgekrönten „Inspektor Kajetan“-Romane von Robert Hültner, jene sechs Bände, die zwischen der Zeit der Räterepublik und dem Beginn der Nazi-Diktatur in München und Oberbayern spielen. Hültner hat mit der Figur des Paul Kajetan – einem
Abkömmling italienisch-stämmiger Ziegelbrenner – einen wegweisenden Protagonisten geschaffen, der reflektierend und selbstzweifelnd den Kampf gegen die Zeitläufte aufnimmt. Die Romane schaffen es sprachlich wie atmosphärisch, das Gefühl der 1920er Jahre zu transportieren. Im sechsten Band „Am Ende des Tages“ lässt Robert Hültner seinen geschassten Inspektor auf den Ismaninger Feldern liegen – den Tod vor Augen. Hültner schreibt zwar immer noch Hörspiel-Krimis für den Bayerischen Rundfunk, die Kajetan-Reihe aber scheint abgeschlossen, was durchaus zu bedauern ist.

Dass das Zeitgeschehen nach 1945 nicht zwangsweise ereignisarm ist, zeigen Krimis, die sich mit neuester deutscher Geschichte beschäftigen. Max Annas, 1963 in Köln geboren, hat sich mit seiner Reihe „Morduntersuchungskommission“ Kriminalgeschichten der DDR angenommen. Minutiös schildert er die Arbeit der Ermittler, die manchmal nur inoffiziell Nachforschungen anstellen durften, weil ja Kapitalverbrechen im „glücklichen“, sozialistischen System eigentlich gar nicht vorkamen. Und endlich zeigt ein Autor einmal, was Polizeiarbeit wirklich bedeuten kann: Langeweile, Zwang zur Akribie, Obrigkeitshörigkeit und Gängelei.

Robert Bracks Roman „Dammbruch“ spielt in Hamburg während der großen Sturmflut im Jahr 1962, die den Stadtteil Wilhelmsburg völlig zerstört hat. Protagonisten sind zwei Kleinganoven, die glauben, den Deal ihres Lebens zu machen, indem sie einen Safe auf einem im Trockendock liegenden Schiff knacken. Doch die Beute erweist sich als unverkäuflich und der Rückzug wird ihnen durch die brechenden Dämme versperrt. Die Rettung, die in der Person einer beherzt zupackenden Krankenschwester nahe scheint, ist ein Trug und am Ende reißt die Flut alles mit sich.

Zeitgeschichte lässt sich in Krimis durchaus plastisch erzählen, ohne dabei in den Duktus von Geschichtsreferaten zu verfallen. Sprachlich-atmosphärische Dichte und genaue Beschreibungen reichen vollkommen, um einen Einblick in das Lebensgefühl des letzten Jahrhunderts zu gewähren. Und wer nicht weiß, was ein Abwesenheitspfleger oder ein Duellkasten ist, der muss halt googeln.