Der Wolf in uns
Von Michael Berwanger

Palo Alto, ein kleiner wohlhabender Ort im Silicon Valley. Das israelische Ehepaar Lilach und Michael Schuster ist vor 16 Jahren dorthin gezogen, um Karriere zu machen und ein vermeintlich sichereres Leben zu führen. Als in der Synagoge ein Attentat verübt wird, schließt sich der bis dahin eher schüchterne Sohn Adam einer Selbstverteidigungsgruppe an und entwickelt sich zu einem wachsamen Kämpfer. Beim Tod eines farbigen Mitschülers kippt die öffentliche Meinung, und Adam gerät unter Verdacht. Der Trainer der Gruppe, Uri Ziv, ein ehemaliger Elitesoldat, nimmt dabei eine undurchsichtige Haltung ein und wird zur Projektionsfläche aller Beteiligten.
Die israelische Autorin Ayelet Gundar-Goschen zeichnet in ihrem vierten Roman „Wo der Wolf lauert“ Handlungsstränge, die offen lassen, wer Wolf und wer Lamm ist. Aus Lilachs Blickwinkel erzählt sie über Vorurteile und zugewiesene Rollen, über Befindlichkeiten und die Ängste einer Mutter.

Ayelet Gundar-Goschen: Wo der Wolf lauert
Roman, 248 S., aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Kain & Aber Zürich – Berlin 2021, 25 Euro

„Er wusste es, er gehörte verboten“
Von Katrin Diehl

Wer einmal angefangen hat, Georges-Arthur Goldschmidt (geb. 1928) zu lesen, wird damit wohl nicht mehr aufhören. Wer seiner Art, literarisch zu berichten, verfallen ist, ist es für immer. Wer sich für dessen Leben interessiert, kann es weiter tun. Dieses Mal geht es also um den Bruder, um Erich, vier Jahre älter als „Jürgen-Arthur“, ein Junge, den ihm die späten Eltern von Anfang an und unwiederbringlich zur Seite gestellt haben und den alles viel zu früh trifft, der es nicht leicht hat zusätzlich zu all den schrecklichen Umständen drum herum. Bei Hamburg geboren wurden die beiden, nachdem die Nazis das Sagen hatten, erst nach Italien, dann nach Frankreich „verschickt“. Denn sie waren nun mal keine „Arier“, wie sehr Erich das auch sein wollte. Goldschmidt lässt den verwirrten, überforderten, so ganz anderen Bruder eine Art unbedingte Gerechtigkeit widerfahren, indem er nachvollziehbar offenbart, was sich da in einer jungen Seele abspielte. Man fühlt mit und versteht: So vieles ist nicht mehr gut zu machen.

Georges-Arthur Goldschmidt: Der versperrte Weg
Roman des Bruders, 110 S., Wallenstein Verlag, Göttingen 2021, 20 Euro

Ein Wien-Roman in Coronazeiten
Von Antonie Magen

Die Möbel des Teufels“ – der Titel des Buches ist zugleich ein Buchtitel im Buch. Benannt ist so eine wenig umfangreiche Broschüre mit apokryphen Zügen, die Leo Prager, der Held von Heinrich Steinfests neuem Roman, in der Bibliothek seiner ermordeten Schwester findet. Das Büchlein hat keinen Verfasser, und auch sonst liegt seine Entstehung im Dunkeln. Dafür deckt sich die Geschichte, die es erzählt, auf fast unheimliche Weise mit dem Wendepunkt im Leben von Leo Prager: dem Einsturz der alten Reichsbrücke in Wien, der nahezu ein halbes Jahrhundert zurückliegt und dafür gesorgt hat, dass Leo auf eine Insel ausgewandert ist.
Damit sind bereits die wichtigsten Elemente genannt, die Steinfest in bilderreicher Sprache zu einem dichten Textgewebe verarbeitet: der unaufgeklärte Tod von Pragers Schwester, der die Geschichte ins Rollen bringt, der mythisch-skurrile Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart sowie – last but not least – der Schauplatz. Er stellt das Buch in die Reihe großer Wien-Romane, allen voran Doderers „Strudlhofstiege“, der der Roman deutlich Tribut zollt.

Heinrich Steinfest: Die Möbel des Teufels Frau Wolf und Cheng ermitteln
Roman, Broschur, 429 S., Piper, München 2021, 16 Euro

Aufstehen als Lebenshaltung
Von Slávka Rude-Porubská

Es ist ein unbeständiges, unstetes Leben, von dem Helga Schubert in 29 kurzen Texten erzählt. Krieg, Flucht, die deutsche Teilung und Wiedervereinigung. In ihrer Biografie und Familie wirkt der Zweite Weltkrieg nach, der Tod des Vaters an der Ostfront und die Traumata der Flucht, die die Beziehung zwischen Mutter und Tochter prägten. Ebenso die Diktatur in der ehemaligen DDR. Hier hat Helga Schubert als Psychoterapeutin gearbeitet, hier geriet sie ins Beobachtungsvisier der Stasi und hier wurde ihr 1980 auch die Reise nach Klagenfurt verboten, als sie zum ersten Mal zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur eingeladen wurde. Sie habe, so ist zu lesen, „einen bleibenden Diktaturschaden“, mit dem sie gegen jede Form von Pathos gewappnet sei. Stattdessen werden ihre erkennbar autobiografischen Texte von einer schnörkellosen und konzentrierten Sprache getragen; an vielen Stellen auch von Selbstironie. Und von einer klaren Haltung – „Aufstehen“ bedeutet ja sich aufrichten, in Bewegung setzen, aber auch sich erheben und Widerstand leisten. Immer wieder aufstehen, nach persönlichen Niederlagen und nach geschichtlichen Widrigkeiten. Keinen Groll, keine Abrechnung – „Alles gut“, lautet der letzte Satz im Buch.

Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten
Hardcover, 224 S., dtv, München 2021, 22 Euro

Selbstermächtigung statt Assimilation
Von Ursula Sautmann

Thomas ist der Großvater der Autorin Louise Erdrich. Er gehört dem Stamm der Chippewa als Vorsitzender des Stammesrats an, das Reservat befindet sich in North Dakota. Die Heimat des Volks der Chippewa ist in Gefahr, als 1953 in den USA die „Terminationspolitik“ eingeleitet wird. Der Stammesrat organisiert den Widerstand gegen ein Gesetz, das die Auflösung des Sonderstatus des Reservats und den Verlust des Stammesgebiets bedeutet. Unter der Fahne der „Assimilisierung“ soll den Ureinwohnern alles genommen werden.
Der Roman gibt Einblick in den Alltag des Volkes, die Träume der jungen Generation und die Gefahren, denen die Ureinwohner in der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt sind.
Mit ihrem Humor und ihrem Einfühlungsvermögen gelingt es der Autorin, die Leserschaft mitzunehmen und so den Überlebenskampf einer Minderheit bis in kleinste Verästelungen hinein zu begleiten. Louise Erdrich erhielt dafür den National Book Award und den Pulitzer Preis.

Louise Erdrich: Der Nachtwächter
Roman, 488 S., aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder, Aufbau Berlin 2021, 24 Euro

In Hogwarts
Von Marie Türcke

Wer auch mit Harry Potter groß geworden ist, wird mich verstehen: Nichts wollte man lieber, als nach Hogwarts zu gehen. Bis heute besteht diese unerfüllbare Sehnsucht. Dann fiel mir „Mr. Parnassus’ Heim für magisch Begabte“ in die Hände. Und da war er wieder: der Wunsch, dabei sein zu dürfen. Linus Baker ist alles andere als besonders. Und alles andere als glücklich. Aber das ändert sich, als er von der Abteilung für magisch begabte Kinder und Jugendliche des Jugendamts einen merkwürdigen Fall zugewiesen bekommt: Er soll ein Waisenhaus mit besonders gefährlichen Kindern besuchen. Unter ihnen: der Antichrist höchstpersönlich, das Kind Satans. Wenn das mal nicht böse endet! Gewappnet mit seinem geliebten Richtlinienbuch und voller Vorurteile macht er sich auf den Weg. Aber es kommt anders, als Linus denkt. Auf der kleinen Insel lernt er eine Welt kennen, von der er nie gedacht hätte, dass es sie für ihn geben kann. Und dann ist da noch dieser sehr charmante und gutaussehende Mr. Parnassus … Eine Geschichte zum Versinken, zum Verlieben, zum Wegträumen – perfekt für die Tage zwischen den Jahren, für lauschige Orte und für Alt und Jung.

T. J. Klune: Mr. Parnassus’ Heim für magisch Begabte
Aus dem Amerikanischen von Charlotte Lungstrass-Kapfer,
Roman, Broschur, 480 S., Heyne, München 2021, 15,50 Euro