Nina Jäckle erhält für ihren Roman „Der lange Atem“ den Tukan-Preis

Zum vierten Mal jährt sich in drei Monaten Fukushima – das Erdbeben, der Tsunami und der atomare Gau vom März 2011. Das sich jederzeit wiederholbare Unglück mit apokalyptischen Ausmaßen hat die Münchner Schriftstellerin Nina Jäckle dazu inspiriert, sich dem Überleben nach der Katastrophe zu widmen. Für den Roman „Der lange Atem“ erhält die Autorin
am 11. Dezember den Tukan-Preis, mit dem die Stadt München alljährlich eine sprachlich, formal und inhaltlich herausragende literarische Neuerscheinung auszeichnet.

„Das Meer atmete aus, ins Land hinein atmete es aus, und dann atmete es tief wieder ein.“ Mit diesen Zeilen beginnt der 170 umfassende Roman von Nina Jäckle – und damit endet er auch. Das Meer hat einen langen Atem, es zerstört, es lässt eine „Kante zurück. Eine Kante, die nun auf ewig markiert, wo das Glück sich aufhielt und wo das Glück nicht war.“ Glück gehabt haben der Ich-Erzähler und seine Frau, die am Tag der Katastrophe, die ihr Heim und all ihre Habe wegriss, in der Stadt waren. Das Ehepaar kehrt an die Unglücksstelle zurück, lebt in einem neu erbauten Haus. Der Erzähler, früher Phantombildzeichner, der Bilder von Verbrechern erstellt hat, rekonstruiert nun Gesichter von gefundenen Opfern. „Ich zeichne die Gesichter ohne ihre entsetzlichen Verletzungen, um den Hinterbliebenen die Identifizierung ihrer Angehörigen zu erleichtern. So ist es ihnen zumutbar“.

Zwei Zeichnungen schafft der namenlose Erzähler am Tag und hilft damit den Hinterbliebenen – dabei geht er seiner Arbeit so gewissenhaft nach, dass er nur nach langem Drängen einer jungen Frau ein Bild von deren Bruder zeichnet: So soll die Mutter der jungen Frau und des verunglückten Bruders endlich Abschied nehmen und ruhig sterben können. Die Ehefrau des Erzählers verzweifelt an all dem Elend, an der Sprachlosigkeit und wird den Ehemann schließlich verlassen. Diese beiden Handlungsstränge durchziehen den Roman, der in immer wiederkehrenden Schleifen die bedrückende Atmosphäre der universellen Katastrophe andeutet: „Es gab Freiwillige, die in den Trümmern nach Fliesen gesucht haben, Fliesen, die von den Häusern übrig geblieben sind. … Erinnerungsfliesen, die statt der Toten in die Gräber gelegt werden“.

Nicht einzelne Schicksale stehen im Mittelpunkt des Romans, sondern die bedrückende Atmosphäre, die Nina Jäckle allerdings nur skizziert. Ähnlich wie ihr Protagonist scheint die Autorin einen Bleistift zu benutzen, beim Lesen hört man „das unentwegte Kratzen der Bleistiftspitze auf dem Papier“. Und man hört den Atem des Meeres, das Auf- und Abfluten von Wortpassagen. So hebt denn auch die Jury zum Tukan-Preis hervor: „Ähnlich der Wellenbewegung des Meers gleitet auch der Text in kurzen Abschnitten vor und zurück. Nina Jäckle hat ein subtil komponiertes, berührendes Buch geschrieben, dem man viele Leser wünscht“.
Ina Kuegler

P.S.: Die öffentliche Preisverleihung durch Bürgermeisterin Christine Strobl findet am Donnerstag, 11. Dezember, 19:00 Uhr im Literaturhaus statt. Hans-Dieter Beck, Leiter des Tukan-Kreises, spricht Grußworte. Die Laudatio hält die Literaturkritikerin und Autorin Beatrix Langner. Axel Wolf (Laute) spielt J.S. Bach.

Nina Jäckle: Der lange Atem
Roman, 170 Seiten
Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2014, 19 Euro