Navidad Tropical

Am 24. Dezember erwachte ich spät. Hatte wieder geträumt, von Vivisektionen, Brandstiftung, Eingeweidewürmern. Zwischen den Träumen lag ich wach und horchte auf die Geräusche im Garten. In der windlosen Nacht rauschte der Wildbach lauter denn je, Beutelratten keiften, das Sägen der Zikaden dröhnte ohne Pause. Von den Hunden war nichts zu hören. Ich machte Eintragungen in der schwarzen Kladde, las ein paar Seiten Moby Dick und schlief wieder ein. Gegen acht hörte ich Klavierspiel. Verena spielte eine Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier. Die Musik klang vertraut, nach wenigen Takten brach sie ab. Ich nahm ein halbes Valium und dämmerte im Halbschlaf vor mich hin.

Verena hatte mich in den letzten Tagen ein paarmal durch die Stadt geführt, dabei wieder fast ununterbrochen geredet, als wollte sie mich nicht zu Wort kommen lassen. Manchmal wurde mir schwindlig davon. Ich ging neben ihr her und fragte mich, wovon die Rede war, und was sie mir sagen oder mitteilen wollte? Das meiste wußte ich inzwischen, alles über Stadt, Land, Leute, Viehzucht, Fauna und Flora, Molkereiwesen, Telenovelas, und nach jedem Wochenende die Morgue überfüllt. Und natürlich, ja, sie wisse das, alles seriell, nicht wahr, alles Pop-art sozusagen, nicht wirklich. Warum ich in Caracas war, warum und wozu Verena mich brauchte, wußte ich noch immer nicht. Etwas hielt mich ab zu fragen, was? Eine unerklärliche Empfindung, Scheu oder Rücksicht, Angst.

Gegen Mittag stand ich auf und setzte mich zum Frühstück auf die Veranda. José trug eben einen Baum ins Haus, den er in der Vega gefällt hatte, eine aus Mexiko stammende subtropische Zypressenart, die bei starker Phantasie an einen Tannenbaum erinnerte. Er stellte den Baum in der Bibliothek auf, da hatte bei uns zu Hause auch immer der Weihnachtsbaum gestanden, neben dem Eckschrank am Rand des blauen Chinateppichs. Auf dem Frühstückstisch hatte sie eine Nachricht hinterlassen, „bin in der Stadt“. Ich verbrachte den Tag im Garten und auf der Veranda in einem Ausmaß innerer Unruhe, das mich trotz tropischer Feuchtigkeit und Schwüle auf widerliche Weise an die in der Kinderzeit erlebte vorweihnachtliche Ungeduld erinnerte, ein durch und durch lästiges Gefühl, bei Verena hat sich das oft bis zu Fieberanfällen gesteigert. Unbegreiflich, daß ich dafür jetzt wieder anfällig war. Gegen fünf Uhr nachmittags kam Verena nach Hause und war verstört. Wortlos fing sie an, den Baum zu schmücken. Ihre Hände zitterten. Sogar den alten Weihnachtsbaumschmuck mit den Papierengeln und dem verbogenen Spitzenstern hatte sie aufgehoben, das kam mir irgendwie krank vor. Ich sah zu, wie sie auf der Leiter stand und den Schmuck an den schütteren Zweigen der mexikanischen Zypresse befestigte. Als sie fertig war, stieg sie von der Leiter, trat ein paar Schritte zurück.

„Perfekt, aber der Baum steht schief. Sieh dir das an, Paul.“
„Er ist gerade.“
„Du mußt genau hinsehen, er steht schief, sieh dir das von hier aus doch bitte an.“
Ich ging vor dem Baum auf und ab und fand ihn gerade. Früher hatten wir Stunden damit verbracht, den Baum zu begradigen, dabei war er immer schiefer geworden.

„Mehr nach rechts“, sagte Verena.
Ich kniete mich hin und lockerte die rechte Schraube des Weihnachtsbaumhalters.
„Gut so“, sagte Verena.
Ich stand auf und ging ein paar Schritte zurück. Der Baum stand schief.
„Was denkst du?“
„Gerade“, sagte ich, „ist gut so.“
„Schau richtig hin, du bist nicht bei der Sache.“
„Ist in Ordnung.“
„Ich finde ihn schief.“
„Eben hast du gesagt, er wäre gerade.“
„Habe ich nicht.“

Sie ging auf die linke Seite.
„Von hier aus ist er schief, er muß mehr nach links gebogen werden.“
Ich kniete mich hin und drehte an der linken Schraube.
„Besser so“, rief Verena, „kann so bleiben.“
Ich stand auf. Der Baum wurde immer schiefer, das machte mich langsam nervös.

„So geht das nicht, mit einem derart schiefen Baum kann kein Mensch Weihnachten feiern.“
„Ich weiß nicht, was du hast“, sagte Verena, „so genau muß es nicht sein.“
Ich kniete mich wieder hin und zog die mittlere Schraube fester.
„Sag mir, wenn er gerade ist.“
„Ich fand‘s am besten, wie‘s am Anfang war“, sagte sie, „aber so geht‘s auch, steh auf.“
Ich stand auf. „Schiefer denn je“, sagte ich.
„Laß gut sein, das sieht kein Mensch.“

Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, einen schiefen Baum unter keinen Umständen ertragen zu können, dann gab ich nach.
„Lametta fehlt“, sagte ich.
„Kommt nicht in Frage, wir haben nie Lametta gehabt. Wie kommst du nur darauf?“
Ich versuchte, mich zu erinnern. Wahrscheinlich hatte sie recht.
„Warum machen wir das, kannst du mir das sagen?“
„Ich wollte, daß alles so wie früher ist, für dich“, sagte sie laut und deutlich, „ich habe seit Jahren nicht mehr richtig Weihnachten gefeiert.“
„Verrückt, du bist verrückt geworden, Verena, daran liegt mir doch nichts.“
In ihren Augen standen plötzlich Tränen. Ich nahm sie in die Arme.

„Was ist mit dir“, sagte ich, „wir brauchen das doch nicht.“
„Ich dachte, du freust dich.“
„Ich freu mich.“
„Entschuldige, ich bin eine sentimentale Kuh, das ist wirklich alles Unsinn, entschuldige. Ich weiß was Besseres. Wir stellen den Baum samt Schmuck auf den Rasen und zünden ihn an, wir verbrennen die Vergangenheit, Autodafé der Erinnerung.“
„Laß ihn ruhig bis Sylvester stehen“, sagte ich, „dann brennt er besser, eigentlich sollten wir das ganze Haus gleich mitverbrennen.“

Hans-Dieter Eberhard, Auszug aus dem Roman „Blut“ München 2012