Die Landeshauptstadt München zeichnet (Nachwuchs-)Autorinnen und Autoren für vielversprechende literarische Projekte aus. Die diesjährigen Literaturstipendien erhalten Raphaela Bardutzky für ihr Theatertextprojekt „In Sachen Don Juan“, Vladimir Kholodkov für sein Romanprojekt „Richie – ein (Miss-)bildungsroman“, Stefan Lechner für sein Romanprojekt „Milena“ und Nora Zapf für ihr Lyrikprojekt „tag auf der kippe – 14 mischwesen“. Das Stipendium für Übersetzungsprojekte erhält Regina Rawlinson für ihre Übersetzung von Jeanette Wintersons „Christmas Days“. Das Stipendium für Kinder-/Jugendbuchprojekte geht an Silke Schlichtmann für ihr Jugendbuchprojekt „Skat“. Die alle zwei Jahre vergebenen sechs Stipendien sind mit jeweils 6.000 Euro dotiert.

Zusätzlich wird der Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis für Autorinnen und Autoren unter 30 Jahren in Höhe von 3.000 Euro an Verena Ullmann für ihr Lyrikprojekt „Wedafest“ vergeben.

Die Vergabe der Stipendien hat der Feriensenat des Stadtrats heute beschlossen.

Aus den Jury-Begründungen:

Raphaela Bardutzky, „In Sachen Don Juan“ „Don Juan, Verführer und Frauenheld, verkörpert ein Männerbild, das seit Jahrhunderten vor allem von Männern in der Kunst fortgeschrieben wird. In ihrem dreiteiligen Theaterstück wagt Raphaela Bardutzky, geboren 1983, einen anderen Zugang. In einem vielstimmigen Chor lässt sie Frauen da- von erzählen, wie sie verführt wurden, in lebendiger Sprache und mitrei- ßendem Rhythmus. Gekonnt lässt sie Zitate aus Hoch- und Popkultur ein- fließen: ‚die Liebe‘ als kulturell geformtes Konstrukt. Im zweiten Teil geht Raphaela Bardutzky einen Schritt weiter und fragt nach Geschlechterrollen und deren Reproduktion auf der Bühne. Diese Selbstreflexion des Theaters wird eingerahmt von klugen Regieanweisungen der Autorin. ‚In Sachen Don Juan‘ ist eine originelle und erhellende Bearbeitung eines jahrhundertealten Stoffs. Dabei überzeugen konzeptueller Ansatz und sprachliche Ausführung gleichermaßen. Mit großem Sprachtalent und Rhythmusgefühl deckt die Autorin spielerisch kulturelle Konstruktionen auf und schafft durch ihre Analyse der Vergangenheit auch eine neue Perspektive auf die Gegenwart.“

Vladimir Kholodkov, „Richie – ein (Miss-)bildungsroman“

„Vladimir Kholodkov, geboren 1987, verdanken wir eine unvergessliche Romanfigur: Richie, den unwahrscheinlichen Helden der Herzen. Der achtzehnjährige Schulabbrecher lebt mit zwei kleinen Geschwistern, Mutter und Großvater irgendwo am Münchner Stadtrand in einer Sozialwohnung. Um die Geldsorgen der Familie zu beheben, bewirbt er sich bei einer Fern- sehshow. Mit seiner herrlich unbedarften Art schafft Richie es auf Anhieb in die zweite Castingrunde – ihn freut es, den Leser bangt es. Vladimir Kholodkovs Talent zeigt sich vor allem in der fein ausbalancierten Darstellung seines Protagonisten: Durch die Ich-Perspektive lässt er den Leser ungefiltert an Richies Gedanken- und Wahrnehmungswelt teilhaben. Es wäre ein leicht zu begehender Fehler gewesen, eine Figur wie Richie der Lächerlichkeit preiszugeben. Doch indem Kholodkov dem Leser einen unverstellten Blick in den Kopf seines Helden gewährt, verhindert er, dass wir ihn, den wir vor dem Fernseher sitzend wahrscheinlich ausgelacht hätten, verurteilen.“

Stefan Lechner, „Milena“

„Die berührende Geschichte, die Stefan Lechner, geboren 1982, in seinem Roman ‚Milena‘ souverän erzählt, kreist um eine Leerstelle: Milena ist kurz vor Ende ihres letzten Schuljahres aus ihrem Heimatdorf im Allgäu verschwunden. Der Roman erzählt davon, wie das Leben dreier Menschen aus der Balance gerät: das von Milenas Eltern und von Milenas bester Freundin Sara. Eine Geschichte über die Unausweichlichkeit, einen Neuanfang zu setzen, und die Unmöglichkeit, das zu tun. Was Stefan Lechner sich mit dieser Geschichte inhaltlich vornimmt, löst er erzählerisch und stilistisch meisterhaft ein. Als wäre das Ereignis ein Strudel, der die Leben der Nächsten nicht nur berührt, sondern unweigerlich mit sich zieht, ist sein Erzählton souverän und bei aller Ruhe gewaltig und verbindlich. Lechner erklärt nicht, was man nicht erklären kann, er behauptet nicht, was zu behaupten übergriffig wäre; er erzählt, Bild für Bild, souverän und ruhig, vom lautlosen Kampf dreier Menschen. Mit dieser klaren Prosa gelingt Lechner etwas, was für einen Anfänger bemerkenswert ist: Er findet Bilder für abgrundtiefe Trauer, ohne sich gefährlich nah an die Kitschgrenze heranzubewegen und ohne x-fach Gelesenes zu wiederholen.“

Nora Zapf, „tag auf der kippe – 14 mischwesen“

„Nora Zapfs (geboren 1985) Gedichtzyklus kennt in der zeitlichen, thematischen und motivischen Anverwandlung keine Grenzen, lässt dabei aber klare und konsequente sprachliche Verfahren erkennen. Tatsächlich erscheinen hybride Mischwesen – mythologische wie die Centauren, aktuelle wie Avatare, biologische wie die Fledermaus – in den Gedichten. Hybrid, also durch Kreuzung erzeugt, ist aber vor allem die Sprache der Gedichte selbst, die fremde Sprachen in ihrer Lautlichkeit aufnimmt, die Sprachmodi unserer Medien mixt, die Synästhesien der Sinne rekreiert. Der ‚tag auf der kippe‘ spielt mit ständigen Kippmomenten, in der mit großer Spielfreude alles inversiv gedreht werden kann. Nora Zapf begreift in ihren Gedichten Hybridisierung als einen energetischen, höchst produktiven Zustand, und wenn man ihn kartographieren wollte: Das ist heute, das ist hier. In jeder Hinsicht zeitgemäß.“

Regina Rawlinson, Übersetzung von „Christmas Day“

„‚Christmas Days‘ von Jeanette Winterson ist eine Sammlung von zwölf Weihnachtsgeschichten und zwölf weihnachtlichen Kochrezepten. Was nach leichter Kost klingt, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine Aufgabe, die Regina Rawlinson als Übersetzerin enorme Kreativität abverlangt. In der Geschichte ‚The Lion, the Unicorn and Me‘ etwa wird die biblische Weihnachtsgeschichte aus der Sicht des Esels dargestellt. Nicht nur gilt es, den schlichten Plauderton des Grautiers zu treffen, die Autorin zündet hier ein wahres Feuerwerk an Alliterationen, Assonanzen, Wortneuschöpfungen, verfremdeten idiomatischen Wendungen etc. Die besondere Herausforderung des Textes liegt darin, sich vom Original zu lösen und die Stärken der deutschen Sprache zur Geltung zu bringen. Vor diese Aufgabe gestellt, läuft Regina Rawlinson zu Bestform auf. Das Ergebnis ist ein Text, der durch seinen Rhythmus und seine Leichtfüßigkeit überzeugt, vor allem aber durch die Vielzahl kreativer Einfälle, die die Übersetzerin zu einem stimmigen Ganzen zu verweben versteht.

Regina Rawlinson, geboren 1957, studierte englische, amerikanische und deutsche Literatur an der Ludwig Maximilians Universität. Sie hat mehr als 90 Bücher ins Deutsche übertragen. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach mit Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds ausgezeichnet.“

Silke Schlichtmann, „Skat“ (Jugendbuchprojekt)

„Wenig bleibt wie es war, wenn man 14 ist. Wenn dann noch von München-Neuhausen ins Alte Land bei Hamburg umgezogen wird, ändert sich fast alles. Nur die Personen bleiben dieselben: der 14-jährige Ich-Erzähler mitten in der Pubertät; die jüngere Schwester kurz davor; das quirlige kleine Brüderchen von zwei Jahren; der mit seiner Karriere unzufriedene Vater; die resolute, selbstständige Mutter. Die in diesem Roman auftretenden Figuren gewinnen durch dem Leben abgelauschte Dialoge unverwechselbare Profile. Die Autorin inszeniert die vielen komischen Situationen nicht als eine Kette vordergründiger Scherze, sondern beobachtet genau und beschreibt sie nuancenreich. Sie erfindet treffsicher Wörter, die nicht im Duden stehen, und zieht Gegenwarts-Themen durch den Kakao. Ein rundum gelungener, origineller Text, weil Sprachqualität, Lebendigkeit der Figuren, innere Nähe zu jugendlichen Lesern, Thematik und Dramaturgie sehr gut zusammenwirken.

Silke Schlichtmann, geboren 1967, ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und gründete 2010 in München ein Textkontor, schreibt und lektoriert. Nach drei Kinderbüchern und einem Erstlesebuch ist ‚Skat‘ ihr erster Jugendroman.“

Verena Ullmann, „Wedafest“ (Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis für Literatur)

„Verena Ullmann, geboren 1989, hat mit ‚Wedafest‘ einen Gedichtzyklus vorgelegt, den sie selbst als ‚inneren Wetterbericht‘ einer Beziehung bezeichnet, die von der Begegnung, dem Zusammenfinden, bis zu Trennung und Verarbeitung verläuft. 24 Gedichte mit einem doppelten Du, das sowohl Anrede als auch Selbstgespräch ist. Es sind knappe, karge, aber sehr genau komponierte Gedichte, für die Verena Ullmann die niederbayerische Mundart gewählt hat.

Das Erstaunliche an diesen Mundart-Gedichten ist, dass sie ohne jede Butzenscheiben-Behaglichkeit auskommen. Die Autorin selbst findet in der Mundart einen ‚Rückzugsort‘, mit der sie das Liebesgedicht verfremden kann. Aber es ist ihr deutlich mehr gelungen. Sie nutzt die Traditionen volkstümlicher Lyrik in ihrer Lakonik und Schlichtheit, belebt die kindlichen Rhythmen des Strophenliedes, um auf sehr leise und intime Weise von dem Liebeserlebnis zu erzählen, es zu befragen und alle emotionalen Farben zu zeigen. Das ist originell, in hohem Maße eigenständig und sprachlich gelungen.“

Die Preisverleihung mit öffentlicher Lesung der Stipendiatinnen und Stipendiaten findet am Freitag, 29. September, im Literaturhaus München statt. Ausführliche Jurybegründungen und Informationen zum Preis und den Jurys unter www.muenchen.de/literatur.

Quelle: Presse- und Informationsamt der Landeshauptstadt München