Die Landeshauptstadt München zeichnet (Nachwuchs-)Autorinnen und Autoren für vielversprechende literarische Projekte aus. Die Literaturstipendien 2019 erhalten: Valerie Sophie Bäuerlein für ihr Romanprojekt „Koh Tao“, Konstantin Ferstl für sein Romanprojekt „Die Erfrorenen Lande“, Sibylla Hirschhäuser für ihr Romanprojekt „Seilschaften“ und Hrvoje Milkovic für sein Romanprojekt „Agram“. Das Stipendium für Übersetzungsprojekte erhält Andrea O‘Brien für ihre Übersetzung von „Sight“ von Jessie Greengrass. Im Bereich Kinder- und Jugendbuch werden 2019 erstmals zwei Stipendien vergeben. Sie gehen an Nina Basovic für ihr Kinderbuch „Leontine – oder warum Pinguine fliegen können“ und an Efua Traoré für ihr Jugendbuch „Die Hüter des Schlafes“.

Die alle zwei Jahre vergebenen sieben Stipendien sind mit jeweils 6.000 Euro dotiert.

Zusätzlich wird der Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis für Autorinnen und Autoren unter 30 Jahren in Höhe von 3.000 Euro in diesem Jahr an Annegret Liepold für ihr Romanprojekt „Überlandfahrt“ vergeben. Über die Vergabe beschloss am Mittwoch, 4. September, der Stadtrat jeweils auf Empfehlung einer Jury. Aus den Jury-Begründungen (Auszüge):

Stipendien: Valerie Bäuerlein: „Koh Tao“

Eine Freundin hat Selbstmord begangen. Vor kurzem kamen von ihr noch lange Briefe von einer Reise durch Asien. Warum sie aus dem Leben gegangen ist? Die Ich-Erzählerin weiß es nicht. Mit dieser Zäsur beginnt der Roman der jungen Autorin und Filmemacherin Valerie Bäuerlein, eine Zäsur, die ihr gesamtes Sehen und Erleben verändern wird. Alles was sie beobachtet, ist wie grundiert von diesem anderen Raum einer existentiellen Grenzüberschreitung. Schließlich wird sie sich auf Reisen begeben und die Route der Freundin nach fahren, ihre Briefe im Gepäck und an den Stationen von deren Reise denselben Menschen begegnen. Valerie Bäuerlein schreibt diesen Reiseroman in der Tradition der Flaneure und Wanderer der deutschen Literatur. Ihre Erzählerin reist heute durch eine globalisierte Welt, in der ein Bustransport nach Laos zu einer Allegorie von Arbeit und Handel werden kann. Valerie Bäuerlein bringt vom Film nicht nur eine fotografisch genaue Wahrnehmung in die Literatur, sondern reflektiert diese Wahrnehmungen, prüft, wie überhaupt sich unsere Welt begreifen und darstellen lässt, über die Grenzen der Kulturen hinweg, über die Grenzen unseres Lebens. Dafür findet sie eine Sprache, die durch ihre geschwungene Syntax, Tempo und Ton und die sublime Wahl der Motive überzeugt.

Valerie Bäuerlein hat Fotografie, Bildende Kunst und Filmregie in Leipzig und Berlin studiert. Heute lebt sie in München. Sie hat mehrere Filme gedreht und zum Teil Drehbuch, Regie bis hin zum fertigen Schnitt verantwortet. Koa Tao ist ihr erster Roman.“

Konstantin Ferstl: „Die Erfrorenen Lande“

„Im Mittelpunkt von Konstantin Ferstls herausragend erzähltem Roman steht gescheiterte Liebe. Der Protagonist des Romans sieht das Ende seiner Beziehung auf sich zukommen. Um dem Unausweichlichen zu entkommen, ergreift er die Flucht und bricht kurzerhand zu einer Reise auf – nach Pjöngjang. Der Roman vereinigt in sich zwei große Qualitäten: Eine leichtfüßige, verspielte Erzählweise und die bis ins kleinste Detail reichende Kenntnis des Erzählstoffs. Von der Bauart des Bahnhofs im Geburtsort des Großvaters des Protagonisten, über die Ereignisse des Ersten Weltkriegs, an dem der Urgroßvater teilnimmt, bis hin zu den liebevollen Gepflogenheiten der zu scheitern drohenden Beziehung – die Welt in Konstantin Ferstls Roman steht auf einem festen Fundament, hat eine eigene, greifbare Wirklichkeit. Kein Wort, kein Satz wird dem Zufall überlassen, kein Gedanke schnell abgefertigt. Gleichzeitig ist der Roman voll mit einem großartigen Humor, der von Konstantin Ferstls Fähigkeit lebt, genau das richtige Wort, genau die richtige Anspielung zu finden, und die Komik in einer subtilen und trotzdem unübersehbaren Art spielen zu lassen. Konstantin Ferstl, geboren 1983 in Altmühltal, studierte Regie an der Hoch- schule für Fernsehen und Film München und wurde für seine Arbeit als Autor für Film und Fernsehen mit mehreren Preisen ausgezeichnet.“

Sibylla Hirschhäuser: „Seilschaften“

„Es gibt die fünfundzwanzigjährige Clara, und es gibt den schon viel zu lange nicht mehr fünfundzwanzigjährigen Roesner. Es gibt Claras traurige Mutter und es gibt Claras verschwundenen Vater. Es gibt einen völlig ge- scheiterten Bergsteiger, über den der berühmte Dokumentarfilmer Roesner einen Film drehen will. Mit beeindruckender Sicherheit arrangiert Si- bylla Hirschhäuser rund um ihre Hauptfigur Clara eine Vielzahl von Figuren, Situationen, Problemen. Leichthändig und kunstvoll wird ein Stück Realität erzählt, voller leuchtender Dialoge, Gedanken, Momente. Die Begegnung von Clara, die in ihrer ökonomischen Prekarität und ihrer Unsicherheit über alle kommenden Lebenswege eindeutig eine Vertreterin ihrer Generation der heute Fünfundzwanzigjährigen ist, mit dem ebenso saturierten wie über seinen eigenen erfolgreichen bundesrepublikanischen Lebensweg vollkommen unzufriedenen Roesner schlägt Funken in diesem ständig ebenso traurigen wie lustigen Romanmanuskript. Jede Figur ist mit Leben gefüllt, alles hat Sinn und ist doch eigenartig und originell. Sibylla Hirschhäuser, 1988 in München geboren, hat Kreatives Schreiben in Hildesheim und Leipzig studiert.“

Hrvoje Milkovic: „Agram“

„Hrvoje Milkovic erzählt in seinem Romanprojekt von Ivan, einem jungen Produktdesigner, der Anfang der Neunzigerjahre mit seiner Mutter vor dem Jugoslawienkrieg nach Deutschland geflohen ist. Dort trifft er auf Friederike und ihre Familie, die ihn herzlich empfangen, mit ihm in den Urlaub fahren und Ivan und dem Leser das Innenleben einer deutschen Familie eröffnen. Mit messerscharfem, charmant-überdrehtem Blick gelingt es Milkovic, Klischees aufzunehmen und zu brechen. Denn es sind die typischen Situationen, die auf Ivan warten, und doch reagiert er nicht stereotyp, nicht erwartbar, sondern hochindividuell. Er reagiert wie einer, den das Trauma seiner Kindheit bis in die Formensprache seines Berufes als Produktdesigner prägt, der die Welt anders liest, als Menschen, die nichts Vergleichbares erleben mussten.

Hrvoje Milkovic erzählt mit sprühendem Witz, origineller Sprache und einem besonderen Blick auf die Dinge, der von einem eigenen Erfahrungs- und Reflexionshorizont zeugt. Er erzählt von Traumatisierung und Integration, von stereotypen Erwartungen an Fliehende und von Anpassung, und er dreht die Aufmerksamkeit des deutschen Lesers dabei auch immer gegen sich selbst.

Hrvoje Milkovic wurde 1984 in Neuburg an der Donau geboren. Er studierte Latinistik und Philosophie in München und arbeitet, neben dem Schreiben, nach verschiedenen beruflichen Stationen mittlerweile selbst- ständig als Messebauer und Bauhelfer.“

Kinderbuchprojekt Nina Basovic: „Leontine – oder warum Pinguine fliegen können“

„Die 15-jährige Leontine ist Expertin fürs Lügen. In jedem Kapitel von Nina Basovics mitreißendem Roman für Kinder ab 12 stellt sie den Lesern eine neue Regel vor, wie man es schafft, beim Lügen nicht aufzufliegen. Das Lügen ist für sie jedoch kein Selbstzweck, Leontine weiß sich nicht anders zu helfen, um ihre zerbrechende Welt zusammenzuhalten. Der Vater ist seit längerem aus ungeklärten Gründen verschwunden, die Mutter kämpft mit Depression und Alkoholsucht, und dann gibt es noch den sechsjährigen Bruder Paul, dem Leontine die Unbeschwertheit bewahren möchte. Das komplizierte Lügenkonstrukt birgt aber auch die Gefahr, Leontine in dieser Phase der jugendlichen Selbstfindung selber zu verschlingen. Zum Glück stößt sie auf unerwartete Unterstützung…

Nina Basovic überzeugt durch die lebendige und lebensnahe Wiedergabe der Gedankenwelt ihrer jugendlichen Ich-Erzählerin, in der Vehemenz und Selbstironie ebenso Platz haben wie poetische Bilder für die Beschreibung innerer wie äußerer Umstände. Die warmherzig gezeichneten Figuren und der dramaturgisch äußerst geschickte Aufbau der Kapitel tragen zusätzlich dazu bei, die Leser direkt in den Bann zu ziehen, für ein Lesevergnügen, das auch eine große Menschlichkeit ausstrahlt. Nina Basovic absolvierte ein binationales Studium der Europäischen Betriebswirtschaft in Cambridge und Landshut und war bei verschiedenen internationalen Unternehmen tätig. 2009/10 war sie Stipendiatin der Akademie für Kindermedien und 2007/2009 Meisterschülerin an der Drehbuchwerkstatt der Filmhochschule München.“

Jugendbuchprojekt Efua Traoré: „Die Hüter des Schlafes“

„Es ist eine Welt von Morgen. Durchgetaktet, durchstruktiert, auf Effizienz getrimmt, berechenbar und gar nicht so fern. Vigilancia heißt das Zukunfts- land, das sich im alten Europa hinter Mauern verschanzt und die Bewohner des Schlafs beraubt. Wer nicht schläft, hat mehr Zeit. Zeit ist Geld. Darum schlucken die Menschen Anti-Schlaf-Pillen. Deren Nebenwirkung: Gefühle sind ausgeknipst. Gespräche sind so wenig erwünscht wie Nähe. Wie Fantasie. Wie Individualität. Oder wie eigenes Denken. Gleichschaltung führt zu Gleichgültigkeit. Anpassung zu Abstumpfung. Die Mechanismen sind bekannt. Umso mehr beeindruckt, was und wie Efua Traoré erzählt. Für verordnete Wortkargheit schlägt sie einen explizit nüchternen Ton an. Begriffe, in neue Kontexte gestellt, erfahren eine neue Bedeutung. Und dann sind da die Hauptfiguren: Emi, 17, und Deymien, beide Außenseiter, beide große Fühlende, beide nicht bereit, sich abzufinden. Ihre Geschichte wird dramaturgisches Sprungbrett für große Fragen. In ihrer Dystopie für Jugendliche, angesiedelt zwischen ‚1984‘ und totalitär-digitalem Überwachungsstaat, nimmt Efua Traoré es mit relevanten Themen auf – und es ist genau dieses Spiel aus Tradition und Verweisen, aus Grundsätzlichem und explizit Heutigem, das dieses Romanprojekt auszeichnet.

Die deutsch-nigerianische Autorin Efua Traoré ist gelernte Diplom-Kauffrau, Autorin, Sängerin und Mutter von drei Töchtern. 2018 gewann sie mit ihrer Kurzgeschichte ‚True Happiness‘ den weltweit ausgeschriebenen ‚Commonwealth Short Story Prize‘ für die Region Afrika.‘“

Übersetzungsprojekt Andrea O’Brien: „Jessie Greengrass: Sight“

„Der Debütroman ‚Sight‘ der jungen englischen Autorin Jessie Greengrass (geb. 1982) wurde in renommierten Zeitungen und Zeitschriften (New Yorker, Guardian, Financial Times, Spectator) durchweg positiv besprochen. Der Roman ist sowohl sprachlich als auch thematisch sehr anspruchsvoll,

was sich bereits auf den eingereichten ersten Seiten gut erkennen lässt, wo es unter anderem um die Anfänge der Kinematographie und die Entdeckung der ‚X-Strahlen‘ durch W. C. Röntgen geht. Daneben (und vor allem) schildert der Roman aus der Ich-Perspektive die Zweifel einer jungen Frau, die sich ein Kind wünscht, aber nicht weiß, ob sie es sich zutrauen kann, eine gute Mutter zu werden.

Beeindruckt hat die Jury die Souveränität, mit der Andrea O’Brien diesen sprachlich sehr dichten und genau durchkomponierten Text durchdrungen hat. Genannt werden müssen auch ihr Ideenreichtum und ihr Mut: Sie klebt nicht am englischen Satzbau, sondern bändigt auch Bandwurmsätze so, dass sie ‚deutsch‘ lesbar bleiben. Die Übersetzung besinnt sich ganz auf die Stärken des Deutschen, sowohl im Idiomatischen als auch im Syntaktischen. Sie trifft den Ton des Originals. Man merkt ihr an, dass Andrea O’Brien den Ausgangstext in seiner ganzen Komplexität verstanden und, ja, dass sie ihn auch erfühlt hat, was ihrer Übersetzung bei aller Intellektualität des Originals, der sie gerecht wird, eine große Unmittelbarkeit verleiht. Andrea O’Brien (geb.1987) hat eine beachtliche Publikationsliste. Sie hat mehrere Arbeitsstipendien des Deutschen Übersetzerfonds bekommen und wurde 2016 mit dem Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern für literarische Übersetzerinnen und Übersetzer ausgezeichnet.“

Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis für Literatur Annegret Liepold: „Überlandfahrt“

„Annegret Liepolds Romanprojekt ‚Überlandfahrt‘ beschäftigt sich mit der Frage nach Standpunkten. Auf der Handlungsebene muss sich die Protagonistin Franka zu ihrer eigenen Geschichte verhalten, eine Haltung zu den Ereignissen ihrer Vergangenheit gewinnen. Weil ein enger Freund zu Schulzeiten in rechtsextreme Netzwerke eingebunden war, wurde Franka als ‚Nazischlampe‘ beschimpft. Ein Skandal entwickelt sich, Franka muss die Schule verlassen. Elf Jahre später sieht sie sich erneut mit den Ereignissen von damals konfrontiert. Virtuos zeichnen sich ihre Unsicherheit, ihre Durchlässigkeit auch in der Erzählhaltung ab. Frankas Perspektive auf die Welt ist nicht stabil, genauso wenig wie ihre Stimme, immer wieder sind sie offen für die Meinungen und Wörter anderer. Durch das Erzählen in ‚Überlandfahrt‘ schimmert deutsche Realität. Ein Campingplatz im Naher- holungsgebiet, ein Brotzeitbrett aus Plastik, das die Aufschrift ‚Weltmeister 2014‘ trägt. Es wird hier nicht nur von Franka erzählt, die sich mit ihrer Geschichte befasst, Verantwortung übernimmt und Scham überwindet, sondern auch die jüngste Geschichte Deutschlands in den Blick genommen. Annegret Liepold, 1990 geboren, hat bis 2018 Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU studiert und arbeitet heute dort. Ihre Erzählung ‚Die Schwäne‘ war für den Literaturförderpreis New Voices Award nominiert; 2018 nahm sie am Studierendenseminar der Bayerischen Akademie des Schreibens teil.“

Der Jury gehörten an:

  • Britta Claus (Penguin), Dr. Florian Kessler (Hanser Verlag), Vladimir Kholodkov (Literaturstipendiat 2017), Eva-Maria Kaufmann (dtv), Dr. Katrin Lange (Literaturhaus München) und Hannes Ulbrich (Piper Verlag);
  • für die Kinder und Jugendbuchstipendien: Christine Knödler (Publizistin), Silke Kleemann (Stipendiatin 2015), Edith Offermann (Kuratorin Kinderprogramm Bücherschau) und Sebastian Zembold (Verlag mixtvision);
  • für das Übersetzungsstipendium: Regina Rawlinson (Stipendiatin 2017), Wanda Jakob (Verlag Antje Kunstmann), Dr. Katrin Sorko (Blessing Verlag);
  • sowie aus dem ehrenamtlichen Stadtrat Walter Zöller (CSU-Fraktion) und Marian Offman (bis 14. Juli CSU-, jetzt SPD-Fraktion), Klaus Peter Rupp und Julia Schönfeld-Knor (beide SPD-Fraktion) sowie Thomas Niederbühl (Fraktion Die Grünen – rosa Liste).

Die Preisverleihung mit öffentlicher Lesung der Stipendiatinnen und Stipendiaten findet voraussichtlich am Donnerstag, 5. Dezember, im Literaturhaus München statt. Ausführliche Jurybegründungen und Informationen zum Preis unter www.muenchen.de/literatur.