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Datum/Zeit
Datum - 16.09.2022
19:00 - 21:00
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Veranstaltungsort
Stiftung Lyrik Kabinett

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Ulrike Draesner und Tristan Marquardt in Lesung und Gespräch über:
Gottfried von Straßburg: Tristan –  mit Frieder von Ammon

Gefördert von der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten (ALG) und der Kulturstiftung der Stadtsparkasse München

Die klassischen Heldenepen und höfischen Romane der mittelhochdeutschen Literatur: Sie sind hochberühmt, doch wer kennt sie wirklich? Zu den Epochen und Texten, mit denen sich gegenwärtige Autorinnen und Autoren auseinandersetzen, gehörten sie für längere Zeit kaum. Doch in den letzten Jahren ist das Interesse wieder gestiegen. Neue literarische Übersetzungen, Nachdichtungen und Neuerzählungen sind erschienen. Was früher zur ‚Nationalliteratur‘ verklärt wurde, gerät nun als weit verzweigter Stoff einer europäischen Literatur neu in den Blick.

Ulrike Draesner und Tristan Marquardt laden dazu ein, die Klassiker des Mittelalters neu zu lesen. Beide schreiben literarisch, beide haben in der Mediävistik promoviert und beide haben in ihren Publikationen mittelalterliche Texte neu vermittelt. Draesner verfasste für ihr Buch Nibelungen. Heimsuchung (Reclam 2016) zu den berühmten Jugendstil-Illustrationen von Carl Otto Czeschka neue Gedichte mit Nibelungen-Stoff. Marquardt gab 2017 gemeinsam mit Jan Wagner die Anthologie Unmögliche Liebe (Hanser Verlag) heraus, in der an die 70 Dichterinnen und Dichter literarische Neuübertragungen des Minnesangs vorlegen.


Der Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg wird gehasst und geliebt. Tristan und Isolde verlieben sich durch einen „Minnetrank“ unwillentlich ineinander. Mit ihrer Beziehung hintergehen sie den König, Isoldes Mann und Tristans Ziehvater. Ist Gottfrieds Epos ein unerhörtes Stück Liebesliteratur? Übersteigerte kunstvolle Sprache oder reine Poesie? Ehebruchsverherrlichung? Und wer ist dieser Tristan, der unter dem Namen Isolde mehrere Frauen liebt? Polyamourös – oder wirklichkeitsverwirrt? Die Sprache narrt die Figuren, Höfisches und Eigenes geraten wie in keinem anderen Werk der mittelalterlichen Literatur in Spannung. Literatur- und kulturgeschichtliche Zukunft zuckt durch den Text, der – ohne Ende überliefert ist. Diesen fesselnden Fragen und Aspekten widmen sich Draesner und Marquardt zusammen mit Frieder von Ammon und überlegen: Wie würde diese Geschichte heute erzählt? Welche Bedeutung kommt ihr zu in einer Zeit, in der romantische Lieben digital und analog konsumiert werden und in der Körperkontakt vielfach gefährlich geworden ist – und wieder erlernt werden muss?

 

Ich hân mir eine unmüezekeit
der werlt ze liebe vür geleit
und edelen herzen z’einer hage,
den herzen, den ich herze trage,
der werlde, in die mîn herze siht.
ine meine ir aller werlde niht
als die, von der ich hoere sagen,
diu keine swaere enmüge getragen
und niwan in vröuden welle sweben.
die lâze ouch got mit vröuden leben!
Der werlde und diseme lebene
enkumt mîn rede niht ebene.
ir leben und mînez zweient sich.
ein ander werlt die meine ich,
diu samet in eime herze treit
ir süeze sûr, ir liebez leit,
ir herzeliep, ir senede nôt,
ir liebez leben, ir leiden tôt,
ir lieben tôt, ir leidez leben.
dem lebene sî mîn leben ergeben,
der werlt wil ich gewerldet wesen,
mit ir verderben oder genesen.
Ich habe mir eine Aufgabe vorgenommen ‒
zum Nutzen der Welt
und zur Freude edler Herzen,
jener Herzen, für die mein Herz schlägt,
und jener Welt, in die mein Herz blickt.
Ich spreche nicht von den gewöhnlichen Menschen ‒
wie etwa jenen, von denen ich höre, daß sie
kein Leid ertragen können
und immer nur in Freude leben wollen.
Gott möge ihnen das doch gewähren!
Zu solchen Menschen und zu dieser Lebensauffassung
paßt, was ich sagen will, nicht.
Ihre Lebensart und meine sind grundverschieden.
Von ganz anderen Menschen spreche ich,
die gleichzeitig in ihrem Herzen tragen:
Ihre süße Bitterkeit, ihr liebes Leid,
ihre Herzensfreude und Sehnsuchtsqual,
ihr glückliches Leben, ihren traurigen Tod,
ihren glücklichen Tod, ihr trauriges Leben.
Dieses Leben will auch ich leben,
unter solchen Menschen will auch ich Mensch sein,
mit ihnen zugrunde gehen oder aber selig werden.

 

Text und Übersetzung nach der Ausgabe: Gottfried von Straßburg, Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und Nachwort von Rüdiger Krohn. Bd. 1. Stuttgart 2007, V. 45‒66.