by LiSe | 1. Juni 2014 | Blog, Vermischtes
Fährleute und Brückenbauer
Rosemarie Tietze, die preisgekrönte Übersetzerin aus dem Russischen
Roter Sand in den Alleen, grüne rebenüberwachsene Galerien, weißhäutige Damen im Kursaal – eine Kulisse für ein Stück Weltliteratur. Es ist Kislowodsk, ein in ganz Russland bekannter Kurort im nördlichen Kaukasus. Seit ein paar Wochen dürfte Kislowodsk auch deutschen Literaturfreunden ein Begriff sein – die Stadt ist Schauplatz in „Ein Abend bei Claire“ des russischen Schriftstellers Gaito Gasdanow (1903-1971). Das Werk ist neu auf dem hiesigen Buchmarkt, erstmals ins Deutsche übersetzt von Rosemarie Tietze. Vor zwei Jahren erschien bereits ein anderer Gasdanow-Roman in einer Tietze-Übertragung: „Das Phantom des Alexander Wolf“. Seitdem gibt es dieses Werk bei Hanser in der 17. Auflage, und seitdem „sind meine Sorgen weniger geworden“, versichert Rosemarie Tietze. „Jedenfalls konnte ich dadurch nach Kislowodsk reisen.“
Eigentlich hatte Rosemarie Tietze die Passage über den Kaukasus-Kurort in „Ein Abend bei Claire“ schon übersetzt, doch nach dem Besuch der Stadt, dem Abschreiten der Schauplätze, änderte sie noch so manches Detail. „Ich habe in Kislowodsk unter anderem mit einem Lokalhistoriker gesprochen“, betont sie. Rosemarie Tietze übersetzt seit 40 Jahren russische Literatur ins Deutsche – Tolstoi, Nabokov, Bitow. Als sie vor Jahren Texte für eine Anthologie über Sibirien ins Deutsche übertrug, war Rosemarie Tietze an den Baikal-See gefahren: „Ich wollte die sibirischen Bauernhütten sehen, denn ich kann nur lebendig beschreiben, was ich vor Augen habe.“ Detailgenauigkeit, die Meisterschaft im Nachahmen des Originals, das Finden einer eigenen Stimme haben Rosemarie Tietze etliche höchst renommierte Preise eingebracht, so etwa den Übersetzerpreis der Stadt München, den Paul-Celan-Preis und das Bundesverdienstkreuz.
Das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse dürfte die Münchnerin vor allem für ihr soziales Engagement erhalten haben – schließlich forcierte sie Mitte der 90er Jahre die Gründung des Deutschen Übersetzerfonds, dessen Präsidentin sie dann zwischen 1997 bis 2009 wurde. Der Fonds vergibt zweimal im Jahr Stipendien für ÜbersetzerInnen, um diese bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Die Mittel dazu stammen von Kulturstiftungen des Bundes und der Länder sowie vom Auswärtigen Amt. „In den Anfangsjahren hatten wir uns vorgenommen, eine Million Mark zusammen zu bekommen“, erinnert sich Rosemarie Tietze. Es klappte: Mittlerweile verfügt der Übersetzerfonds jährlich über mehr als 500.000 Euro. Übersetzerinnen und Übersetzern in Deutschland geht es, trotz „steigenden Selbstwertgefühls“, miserabel – viele brauchen einen Brotberuf. 50 Euro brutto am Tag, das war für Rosemarie Tietze der Durchschnittsverdienst für acht Stunden Übersetzung von Bitow-Prosa und den dazugehörigen Arbeiten.
Zum Russischen kam Rosemarie Tietze nach ihren eigenen Worten „aus Opposition“. Französisch sei die erste Fremdsprache gewesen, direkt vor ihrer Nase habe das Straßburger Münster gestanden. Im Schwarzwald geboren, studierte sie zunächst Thea-terwissenschaft und Germanistik, später kam Slawistik hinzu. Es folgte ein einjähriger Forschungsaufenthalt an der Moskauer Theaterhochschule GITIS, danach ein Zweitstudium am Münchner Sprachen- und Dolmetscherinstitut, wo sie später auch viele Jahre unterrichtete. Auch heute arbeitet die Münchnerin noch als Dozentin, etwa bei Fortbildungsseminaren für Literaturübersetzer ins Deutsche. Voriges Jahr hatte sie eine Gastprofessur an der FU Berlin, und vor zwei Jahren unterrichtete sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.
Rosemarie Tietze hat literarische Übersetzer einmal mit Fährleuten und Brückenbauern verglichen und ihre Arbeit als beschwerliche „Pfadfinderei an der Sprachgrenze“ bezeichnet. Dieser Spürsinn brachte sie auch auf die Fährte von Gaito Gasdanow – den Autor, den die deutschen Leser ohne die Münchner Übersetzerin gar nicht kennen würden. Vielleicht noch berühmter als ihre Gasdanow-Übertragungen ist aber vermutlich Rosemarie Tietzes Neuübersetzung von Tolstois „Anna Karenina“. Zweieinhalb Jahre arbeitete sie an diesem 1200-Seiten-Epos. Mit welcher Leidenschaft und welcher Akribie sei nur an einem Beispiel beleuchtet: Um die Umgangssprache Tolstois nachempfinden und nachformen zu können, hat Rosemarie Tietze unter anderem Fontane gelesen, und zwar den Briefwechsel zwischen Fontane mit seiner Frau. „In ihren Briefen haben sie geschrieben, wie sie geredet haben.“ Und so klingt „Anna Karenina“ dank Rosemarie Tietze für den heutigen deutschen Leser so, als spräche Tolstoi zu uns persönlich.
Ina Kuegler
by LiSe | 1. Juni 2014 | Blog, Kolumne
Der hoch gebildete literarische Mensch, wenn er von Zeit zu Zeit aus seinen Büchern aufblickt, aufhorcht, muss sich eingestehen, dass – sofern er nicht dreifachverglast und schalldicht energetisch saniert lebt – es ein Draußen gibt. Und dass von dort draußen um diese Jahreszeit ein unglaubliches Zwitschern, Keckern und Tirrillieren zu ihm hereindringt, das ihn kaum noch konzentriert seinen Homer oder Sloterdijk im Original studieren lässt. Hauptakteur ist nicht etwa der Grünspecht, der nach Art der Literaturkritiker gern ein schrilles Hohnlachen ausstößt, das er in 4-5 Terzen abwärts vorträgt. Was ihm für 2014 verdientermaßen den Titel „Vogel des Jahres“ eingebracht hat. Er ist stark bedroht und lebt von kleinsten Vergnügungen, von Ameisen zum Beispiel. Hauptdarsteller vielmehr ist die Amsel, die schon von Shakespeare (450) in jenem 3. Akt von „Romeo und Julia“ mit der Lerche verwechselt wird, denn was sollte schon eine Lerche im städtischen Verona zu suchen haben – vor dem Morgengrauen singen nur die Amseln.
Sie haben in ihrer großen Mehrheit auf ihren winterlichen Ausflug nach Marokko verzichtet, sich den feuchtkalten Winter Münchens um die Schnäbel geschlagen und ihre Energie ganz der Kunst geweiht anstatt dem sinnlosen Hin- und Hergefliege. Lyriker wie Paul McCartney („Blackbird in the dead of night“) und Sarah Kirsch („…Darling flüstert die Amsel“) haben sie dafür in ihren Werken verewigt. Der kriegsverwirrte Robert Musil hat ihr (post gerrum) eine Erzählung („Die Amsel“) gewidmet, in der er Jugend, Kriegsgrauen und Muttersehnsucht verbindet mit einem mystischen Amselerlebnis, als könnte diese unscheinbare Künstlerin mit ihrer dunklen Herkunft und Kraft seine Wunden heilen. Als würde sie als geheimnisvolle Botin einer anderen Welt Grenzen mühelos durchfliegen – eine sehr wahrscheinlich von Selbstzweifeln durchdrungene Thomas Mannsche Künstlerexistenz, die, inzwischen dickbauchig und schwer, irgendwann in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts beschlossen hat, den winterlichen Fernflug zugunsten ihrer ökologischen und künstlerischen Ideale aufzugeben und sich ganz und gar der Musik hinzugeben. Wobei die fliegenden Troubadoure den schönen Nebenzweck verfolgen, das fruchtbarste Weibchen anzulocken. Auch hier dem schon erwähnten Thomas Mann ganz ähnlich.
Dass die Amsel gelegentlich auch andere plagiiert, ohne die Quelle anzugeben, muss als der kleine modische Makel gelten, den man Großen gern vergibt. So könnten wir uns alle an den Händen nehmen und das Glück durch Tirrillütirrütirrü mit gespitzten Mündern für uns ganz erfassen, gäbe es nicht diesen Schönheitsfleck der Vogelforschung: dass angeblich nur die Männchen schön singen. Doch Schluss jetzt. Dieser Genderdiskurs ist denn doch ein weites, allzu weites Feld zwischen München und, nun ja, dem Amselfeld.
WH.
by LiSe | 1. Juni 2014 | Blog, Titelgeschichte
Die Villa Waldberta in Feldafing, das internationale Künstlerhaus der Stadt München, beherbergt Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt. Jährlich werden 30 bis 40 Gäste eingeladen und können hier bis zu drei Monate kostenlos wohnen und arbeiten. Gerade ist Südamerika zu Gast – drei Schriftsteller aus Haiti und vier Schauspieler aus Brasilien.
Die Lage des Hauses ist überwältigend. Der Blick schweift über den Starnberger See ans gegenüber liegende Ufer und bis zu den Alpen. Hier präsentiert sich Bayern aufs Prächtigste, und manch einer, der aus einer ganz anderen Ecke der Welt kommt, braucht erstmal eine Eingewöhnungszeit. Karin Sommer, die Leiterin der Villa Waldberta, ist sich aber sicher, dass die meisten Gäste schnell ihren Rhythmus finden und den Aufenthalt erfolgreich nutzen können. Seit seiner Entstehung 1901/02 gingen in dem stattlichen Haus Kosmopoliten und Künstler ein und aus. Diesen Geist wollte die letzte Besitzerin Bertha Koempel, die jedes Jahr in den Sommermonaten von New York nach Feldafing kam, wohl erhalten. 1965 gründete sie eine Stiftung und vermachte die Villa Waldberta inklusive Park der Landeshauptstadt mit der Auflage, das Anwesen als Baudenkmal zu erhalten. Doch erst seit 1982 existiert das Haus in seiner heutigen Form, strömt durch seine Räume ein ständiger Fluss von Künstlerinnen und Künstlern, wird internationale Kulturarbeit gefördert.
Bei der Vergabe der Stipendien lässt sich das Waldberta-Kuratorium von Experten beraten, von Institutionen wie dem Goethe-Institut, der Pasinger Fabrik oder aus der freien Szene. Doch eigentlich könnte jeder Bürger Vorschläge machen, sagt Karin Sommer. Einen Münchenbezug sollten sie haben und dem städtischen Kulturaustausch zugute kommen. Überzeugt das Projekt und lässt es sich mit anderen schwerpunktmäßig bündeln, werden die dafür geeigneten Künstler eingeladen. Schwerpunkte in diesem Jahr sind „Junge Kunst International“ und „Das Fremde und das Eigene“. Derzeit erarbeiten vier brasilianische Schauspieler ein zweisprachiges Theaterstück über die 1908 in München geborene Olga Benario, die in Brasilien als Revolutionärin Geschichte schrieb und 1942 von den Nazis im KZ ermordet wurde. Das Stück hat am 20. Juni in der Pasinger Fabrik seine Welturaufführung und soll auch noch in Rio de Janeiro gezeigt werden.
Die drei aus Haiti stammenden Gäste der Villa Waldberta wurden für das große Kulturprogramm „Kreyòl. Die Kultur des Widerstands in der Karibik“ eingeladen, ein von dem Künstler und Kurator Siegfried Kaden initiiertes Projekt. Ein sehr randständiges und nicht gerade München bezogenes Thema, will man meinen, aber Hilario Batista Félix macht in seinem Vortrag klar, dass die kreolische Kultur, in der meist unterprivilegierte schwarze Menschen beheimatet sind, zu den Erblasten des Kolonialismus gehört und also auch uns etwas angeht. Félix ist in Kuba geboren und setzt sich als Präsident der Vereinigung „Bannzil Kreyòl Kiba“ für die kreolische Sprache, Kultur und Tradition ein. Als absoluter Experte auf diesem Gebiet hat er in Europa noch nie darüber sprechen können. Er ist zum ersten Mal auf dieser Seite des Atlantiks, und Feldafing war für ihn ein Schock, vor allem, als mit dem Mai die Kälte kam. Mit seinem heiteren offenen Wesen verkörpert er das Lebensgefühl der Karibik, und das möchte er uns nahe bringen.
Der Lyriker, Romanautor und Bildende Künstler Anthony Phelps fühlt sich allein schon durch seine Familie, die von überall her aus Europa, Russland und Afrika stammt, als Nomade zwischen den Kulturen. 1928 in Port-au-Prince geboren, wurde er 1954 von der Duvalier-Diktatur ins kanadische Exil vertrieben. Reisen, unterwegs sein, gehört zu seiner Biografie, und als ihn im April der bayerische Frühling mit Sonne, Wärme und überschwänglicher Blütenpracht empfing, fühlte er sich beinahe in seine Heimat Haiti zurückgekehrt. Er war auch schon an anderen Orten als Stipendiat eingeladen, aber bei weitem am elegantesten ist die Villa Wald-
berta. Doch es ist, wie er sagt, nur ein Innehalten auf Zeit, in der er auf Dis-tanz zur Alltäglichkeit geht und den Vogelstimmen lauscht, die den Park mit ihrem Gesang erfüllen. Zur Zeit arbeitet er an einer Gedichtsammlung und lässt sich auch von der schönen Landschaft und der Natur um ihn herum inspirieren. Ins Münchner Kulturleben ist er bisher nicht eingetaucht, aber er war in Neuschwanstein und Andechs. Dass in einem Kloster Bier gebraut und ausgeschenkt wird, hat ihn amüsiert. Am 18. Juni wird er zum Thema „Exil. Als Nomade unterwegs zwischen Poesie und Prosa“ sprechen und aus seinem Werk vorlesen (Institut Français, Kaulbachstr. 13).
Louis Philippe Dalembert nutzt seine Zeit als Stipendiat in der Villa Waldberta vor allem, um seinen neuen Roman zu beenden. Auch ihm ist das Wandern zwischen den Welten nicht fremd, es ist geradezu eine Obsession, die sich durch sein Werk zieht. Platz und Handlung mögen sich ändern, sagt er, aber meine Personen sind geprägt von einer ständigen Spannung zwischen zwei Zeiten, der Kindheit und dem Erwachsenenalter, die für mich genauso Länder sind wie die geografischen. Jedes Mal wechselt die Perspektive, mit ihr ändern sich die Dinge und die Art, wie wir sie betrachten. Dalembert ist in vielen Ländern zuhause, spricht sieben Sprachen und lebt heute unter anderem in Paris und Port-au-Prince. Am 11. Juni hält er einen Vortrag über „Ein Vagabundenleben für die Literatur“ (Institut Français, Kaulbachstr. 13).
Katrina Behrend Lesch
Auf den Webseiten www.villa-waldberta.de und www.kreol-deutschland.com findet man noch weitere nützliche Informationen.