Es gab Literatur an einem Ort, dessen ureigener Zweck es war, Literatur (und Leben) zu vernichten. Es gab Goethe in Dachau. Das belegt Michaela Karl, die im Literaturportal Bayern neun Autoren vorstellt, die ihren literarischen Widerstand gegen das Nazi-Regime auch im KZ Dachau fortsetzten.
Es ist der 1. Weihnachtsfeiertag 1944. Im KZ Dachau sitzen Nico Rost (1896–1967), niederländischer Übersetzer, Schriftsteller und Korrespondent und Kommunist, und der Mithäftling Fritz zusammen und versuchen, nicht in Furcht und Sehnsucht zu ertrinken. „Wir haben uns ein Spiel ausgedacht… Wie würde sich Goethe wohl benommen haben, wenn er hier bei uns in Dachau säße?“ Die Beiden fabulieren: „Goethe: Verhaftet, weil er sich … in einem wissenschaftlichen Artikel über Ontologie abfällig über die Theorien des Rassenforschers Professor Günther geäußert hat… Hier in Dachau wäre er wahrscheinlich Revierkapo gewesen oder auch Kapo von der Totenkammer; auf jeden Fall aber sehr prominent! Im Umgang mit der SS würde er sehr diplomatisch und zuvorkommend gewesen sein… Und natürlich hätte er Sondererlaubnis, um sein Haar wachsen zu lassen.“ Der Weihnachtsabend war lang, andere geistige Größen folgten. Schiller hatte es im Spiel von Nico Rost und Fritz „sehr schwer: Lokomotivenkommando München“. Weil er sich für seine Mitgefangenen einsetzt, hat er bereits zweimal „fünfundzwanzig auf den Arsch“ bekommen und läuft stets Gefahr, „auf Transport“ geschickt zu werden. Georg Büchner wird „in Dachau aufgehängt. Abends nach dem Appell veranstalteten seine Mithäftlinge eine geheime Toten- und Erinnerungsfeier für ihn.“ Heinrich von Kleist, Hölderlin, Schopenhauer, Gerhard Hauptmann und Nietzsche, der „schon nach wenigen Wochen im Lager ein Muselmann geworden (ist), der dauernd weint und abends am Eingang von Block 26 (der Block der Geistlichen) um etwas Suppe bettelt“, sie alle – Klassiker des deutschen Geisteslebens – läßt Rost in „Goethe in Dachau“ vor dem geistigen Auge des Lesers durch das KZ ziehen. Er hatte die Klassiker studiert, und er hatte Humor.
„Literarischer Widerstand. Europas Dichter im KZ Dachau“ heißt die Seite im Literaturportal Bayern, die neun Literaten stellvertretend für viele in Kurzbiographien vorstellt. Es sind Karl Adolf Gross, Julius Zerfaß, Nico Rost, Boris Pahor, Friedrich Reck-Malleczewen, Edgar Kupfer-Koberwitz, Joseph Rovan, Emil Alphons Rheinhardt und Norbert Fry´d, an die aus Anlass des 70. Jahrestags der Befreiung erinnert wird. Sie waren alle im literarischen Widerstand und sollten büßen, sie setzten alle auch im KZ auf Literatur und geistige Selbstbehauptung, um zu überleben, und sie legen uns, den Lesern, die Literatur, gerade auch die deutsche, auf eine ganz besonders eindrückliche und anrührende Weise ans Herz.
Denn Schreiben war keineswegs eine Tätigkeit, die im KZ erlaubt war. Im Gegenteil, Schreiben war ein Risiko, wer schrieb, setzte sein Leben aufs Spiel. Es war schon schwierig genug, überhaupt an Schreibwerkzeug zu kommen, Papier und Bleistift waren äußerst selten und begehrt, Verstecke für die Niederschriften nur schwer zu finden. Die Literatur also hätte den Tod bedeuten können. Aber sie stand eben auch für das Leben, für das Denken und die geistige Auseinandersetzung und war somit gerade die Voraussetzung dafür, nicht zu sterben.
Es gibt denn auch zahllose schriftliche Zeugnisse aus dem KZ, oft in Form von Tagebuchaufzeichnungen, die unter dem Eindruck der Barbarei entstanden. Doch Michaela Karl, promovierte Historikerin und Autorin von (u.a.) Büchern über „Streitbare Frauen“, „Die Münchener Räterepublik“, Liesl Karlstadt“ und „Bayerische Amazonen“ und Mitglied der Münchner Turmschreiber, hat sich für das Literaturportal beschränkt auf Schriftsteller, die gerade wegen ihrer Veröffentlichungen inhaftiert und mit dem Tode bedroht wurden. Viele wurden vergessen. „Das Literaturportal hat die Pflicht und die Schuldigkeit, an sie und ihr Werk zu erinnern“, begründet Karl ihre Mitarbeit am Portal. Gern würde sie noch eine Reihe österreichischer Schriftsteller hinzufügen.
Es geht ihr darum, „ein anderes Bayern als das der bayerischen Seen“ zu zeigen. Und es geht ihr auch darum, eine Seite des Lebens im KZ zu beleuchten, die lange im Dunkeln lag. Denn dass Literatur dort gelebt, überlebt hat, ist noch viel zu wenig bekannt.
Nico Rost ist einer unter vielen, aber ein ganz besonders wichtiger Stellvertreter des literarischen Widerstands im KZ Dachau. Mit „Goethe in Dachau“ hat er ein Buch geschaffen, das alle Literaturbegeisterten nur bestärken kann. Er hat der Literatur ein Denkmal in höchst lebensbedrohlichen Zeiten gesetzt, und er hat zudem nach dem Terror maßgeblich dafür gesorgt, dass aus dem ehemaligen KZ eine Gedenkstätte wurde. Wir haben ihm und den übrigen Schriftstellern im KZ Dachau viel zu verdanken.
Ursula Sautmann
Das Literaturportal Bayern ist ein Projekt der Bayerischen Staatsbibliothek in Kooperation mit der Monacensia, begleitet vom Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultur, Wissenschaft und Kunst, unterstützt von der Landeshauptstadt München, gefördert von der Bayerischen Sparkassenstiftung.