Heute nehme ich eine S-Bahn früher. Einmal nicht die Letzte sein. Ausnahmsweise bin ich sogar stolz auf mein Gastgeschenk.
Wein kann man nämlich vergessen. Er würde die Flasche auspacken, den Arm lang machen und mit zur Seite geneigtem Kopf das Etikett begutachten. Dann würde ganz kurz ein Ausdruck von Resignation über sein Gesicht huschen, der aber, wenn er die Flasche auf die marmorne Arbeitsfläche gestellt hätte, einem neutralen Lächeln gewichen sein würde. Dann würde er den Champagner aus dem Kühler ziehen, mit einer weißen Stoffserviette den Nebelschleier vom Etikett wischen, während sie überschwänglich erzählen würde, wie sie dieses Ausnahmegetränk auf ihrer letzten Tour durch das Valée de la Marne in einem kleinen Weingut entdeckt hätten. Also keinen Wein.
Auch ein duftendes, zugleich säuberndes Mitbringsel, wie Duschgel oder Badeperlen hätte sich verboten, denn wenn jemand Spezialistin in Sachen Kosmetik ist, dann sie. Vor Kurzem erst ist sie auf eine Biomarke umgestiegen, die den Hauptwirkstoff ihrer Cremes aus den Kernen von Früchten gewinnt, die von marokkanischen Frauen in Handarbeit gepresst werden. Also nichts mit Kosmetik.
Ich hatte mich für einen Kräutertopf entschieden. Koriander. Sie kochen neuerdings gern vegan. Sicher würde es heute Abend wieder etwas Ausgefallenes geben. Lachs- und Tartarhäppchen waren fleisch- und milchfreien Alternativen gewichen. Frittierte Salbeiblätter oder irgendwas mit Hommos oder Hummus stand sicher auf dem Programm. Seitdem sie diese Fastenkur auf Sylt gemacht hatte, war sie Kichererbsenfan. Der Körper übersäuert so leicht, sagte sie jetzt oft.
Wieder einmal komme ich mir abgewetzt und billig vor, als ich vor der weißen Tür mit dem schlichten Knauf aus gebürstetem Edelstahl stehe und eine Art modernen Türklopfer betätige.
Die kühle Wolke eines reduzierten Duftes umfängt mich, als sie mich umarmt. Der edle Stoff ihres silberglänzenden Hosenanzugs rauscht leise. „Mit dir habe ich ja jetzt am Wenigsten gerechnet“, sagt sie und „Oh, Koriander.“ Sie nimmt mir den Topf ab und führt mich durch den weiten Flur ins Stilparadies. Über dem Ledersofa hängt die extrem vergrößerte Version einer Digitaluhr, zweifelsohne das Kunstobjekt eines namhaften Designers. Sie zeigt die Zahl 19 und hinter einem Doppelpunkt, der aus zwei graphitfarbenen Quadraten besteht, eine 50.
„Rat doch mal, wer unser erster Gast ist, Schatz“, sagt sie ins Klackern ihrer Absätze hinein. Wortlos küsst er die Luft neben meinen Wangen und zieht dann den Champagner aus dem Kühler. Nachdem sie von der Loire erzählt hat, sage ich etwas Lustiges. Dann ist es still. Er poliert mit einem weißen Tuch die Weingläser, wobei ein quietschendes Geräusch entsteht. Sie räumt Gemüse von der Ablage in den Kühlschrank. Ich halte mich am dünnen Stil des Glases fest. Die Digitaluhr tickt nicht.
„Bei Ambrosia haben sie jetzt gar keine Plastiktüten mehr“, versuche ich. „Tüten aus Plastik nehme ich schon lange nicht mehr“, sagt sie und atmet gelangweilt aus. „Was für ein hysterischer Scheiß ist das jetzt wieder?“ Seine Stimme ist höher, als man denkt, fällt mir auf. „Dass die Meere voller Plastik sind, stört dich wohl gar nicht“, gibt sie zurück. Mir raunt sie zu: „Das meine ich mit selbstgefällig und ignorant.“
„Bei uns sind doch eh die meisten Tüten aus Polyethylen, Kohlenstoff und Wasser. Das tut keinem was.“ Er verwringt das weiße Tuch und wirft es in das Edelstahlspülbecken. „Was soll an Plastik verkehrt sein, wenn es richtig entsorgt wird?“ Er schaut mich an und hebt die Schultern, wobei der Kragen seines Blazers von beiden Seiten in seinen von der Rasur noch geröteten Hals einschneidet. „In Wahrheit geht es doch darum, dass sich alle besser fühlen wollen, wenn sie mal keine Plastiktüte nehmen. Seht her! Ich rette gerade die Welt!“ In einem kräftigen Schwall gießt er sich Wein in eines der glänzenden Gläser.
Sie zieht ihren silbernen Schuh aus und klopft damit auf die Marmorplatte. „Für ein Paar Schuhe brauche ich keine Tüte. Die nehme ich so mit. Dir wäre das natürlich viel zu blöd.“ „Stimmt! Und by the way, du änderst gar nichts an dem Plastik im Meer, wenn du dein hundertstes Paar Schuhe mal ohne Tüte ins Cabrio trägst!“ Auf Zehenspitzen stolziert er auf der Stelle, den Arm komisch abgewinkelt, als hielte er ein imaginäres Paar Schuhe in der Hand.
„Das Einzige, was passiert, wenn du so durch die Stadt stöckelst ist, dass du dich toller fühlst. Wie du dich immer toller fühlen willst, als die anderen.“ Er packt sich ein Hommosbällchen, hält es ihr vor die Nase und zerquetscht es zwischen den Fingern. „Das sind doch alles Deppen, die Fleisch essen und Plastiktüten nehmen. Abschaum. Oh mein Gott, warum sind nicht alle Menschen so wie meine Frau?“
Es zwitschert. Sie schlüpft in ihren Schuh und macht sich auf den Weg zur Tür. Mit einem seltsam entrückten Blick schaut sie sich um und flötet: „Schenk ihr doch noch was nach, Schatz.“ Mit seinen Hommoshänden nimmt er die Serviette aus dem Edelstahlbecken und packt die Flasche am Hals. „Möchtest du noch?“ Ich möchte, weiß aber jetzt schon, dass ich beim nächsten Mal wieder die spätere S-Bahn nehme.
Susanne Dressler