Helena Janeczeks großartige Roman-Biografie über die Kriegsfotografin Gerda Taro  

Von Slávka Rude-Porubská

Inmitten des Wahnsinns knipste sie wie besessen, die winzige Leica über dem Kopf, als könnte sie sie vor den Bombern schützen. Der brave Soldat Gerda.“ Als hätte man ein Foto vor sich – mit knapp-anschaulicher Szene stellt die in München geborene Wahlitalienerin Helena Janeczek die Heldin ihres 2017 in Mailand erschienenen Romans vor, der jetzt von Verena von Koskull ins Deutsche übersetzt wurde. Gerta Pohorylle, Tochter einer jüdischen Familie aus Stuttgart, begeistert sich Ende der 1920er Jahre in Leipzig für sozialistische Ideen und wird 1933 wegen ihrer Kontakte zu politisch linken Kreisen verhaftet. Nach der Flucht aus Deutschland bringt sie sich in Paris autodidaktisch das Fotografieren bei und stürzt sich in den medialen Kampf an der Front. Gemeinsam mit ihrem Lebens- und Geschäftspartner, dem aus Ungarn geflohenen André Friedmann, dokumentieren sie – unter den Namen Gerda Taro und Robert Capa – den Spanischen Bürgerkrieg für internationale Medien.

Als würde die Autorin selbst gekonnt mit fotografischen Mitteln arbeiten: Die zeitgenössische (männliche) Prominenz – sei es Willy Brandt, Henri Cartier-Bresson oder Ernest Hemingway – taucht nur unscharf im Hintergrund auf. In drei zentralen Kapiteln zoomt Janeczek die lange vergessene Fotografin heran, stellt scharf auf die charismatische Frau, Jüdin und Kommunistin, wechselt dabei überzeugend die Perspektive und den Winkel. Zu Anfang der 1960er Jahre erinnern sich zwei Weggefährten Gerdas an die tollkühne Fotoreporterin, das couragierte „Blondchen“, pequeña rubina, der in Spanien der Ruf vorauseilt, sie sei „eine von diesen Emanzen, die nicht einmal vor Hitler kuschen.“ Willy Chardack, nun als Erfinder des Herzschrittmachers im US-amerikanischen Buffallo beheimatet, und Georg Kuritzkes, UNO-Mitarbeiter in Rom, sind später beide in der Medizin-forschung erfolgreich. Im Ausland ist ein Aufbruch in ein neues Leben möglich, fern von Deutschland, das „in einer dieser Waschmaschinen, von denen jetzt alle träumen, mit Persil gewaschen worden“ ist. Taros Jugendfreundin aus der Leipziger Zeit, Ruth Cerf, tritt in Paris der Exilpartei SAP bei und steht als Fotomodell vor der Kamera – sie ist es, die Gerda mit Friedmann bekannt macht. Ihr Erinnerungsrückblick ist im Text mit der Jahresangabe 1938 versehen, liegt also nah an dem tragischen Unfall, bei dem Gerda im Sommer 1937 bei der Schlacht um Brunete unweit von Madrid von einem Panzer tödlich angefahren wurde.

Als würde Janeczek unterschiedliche Belichtungszeiten verwenden, um aus den Erinnerungsfragmenten, historischen Ereignissen und behutsamen Fiktionalisierungen verschiedene Facetten dieser faszinierenden Persönlichkeit übereinanderzulegen: „Gerda, die Verwegene, die Unberechenbare“, die „sich bei aller Wandlungsbereitschaft stets treu“ bleibt. Die Leser*innen begleiten die behütete Kaufmannstocher, die eine Internatsausbildung in der Schweiz genossen hatte, durch die Hungerszeiten des Exils, die Einsätze an der Front und den kometenhaften Aufstieg zur renommierten Fotojournalistin. An der Seite von Capa führt sie zwei Jahre lang ein „Doppelleben zwischen Kriegsschauplätzen und Fünfsternehotels.“ Mit Leichtigkeit wechselt sie die Männer wie auch ihre Outfits – mal trägt sie Seidenstrümpfe, mal Uniform – stets angetrieben von zwei Maximen. Da ist einmal ihr unbedingter Lebenshunger, dank dem sie „sich nicht den kleinsten Happen Glück entgehen ließe, den man der Gegenwart abjagen kann.“ Und da ist auch das zweifelsohne biografisch motivierte Engagement im antifaschistischen Widerstand, in dem es sich Taro zur Aufgabe macht, „zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein und eine Wirklichkeit zu bannen, die aufrütteln, den Protest befeuern und die freie Welt zum Handeln zwingen sollte.“

Nicht nur mit ihren authentischen Frontbildern, sondern auch mit den Fotos der von der ersten außenpolitischen Aggression Hitlers und Mussolinis betroffenen Zivilbevölkerung hat Gerda Taro die Kriegsfotografie neu definiert. Helena Janeczeks anspruchsvolles literarisches Porträt gibt dem in unserem kollektiven Gedächtnis bisher unterbelichteten weiblichen Beitrag zum Widerstandskampf und zur Geschichte der Fotoreportage ein markantes Gesicht – das des „Mädchens mit der Leica“.

Helena Janeczek:
Das Mädchen mit der Leica
Übersetzt von Verena von Koskull
Gebunden, 352 Seiten
Berlin Verlag/Piper, Berlin/München 2020
22,00 Euro