Nach dem Termin schlendere ich die Straße entlang und sehe mich um. Schon lange bin ich nicht mehr in der Gegend gewesen. So vieles hat sich verändert. Plötzlich stehe ich vor dem Café, in dem ich in der Oberstufe so manche unliebsame Schulstunde überbrückt habe. Wie es dort wohl heute aussieht, überlege ich, und gehe hinein. Die Räume sind renoviert, hell, andere Bilder hängen an den Wänden, der Bodenbelag ist erneuert. Dennoch ziehen für mich noch immer die Seventies durch die Räume. Und auch jetzt sitzen Schülerinnen und Schüler in dem Café.

Wie früher, fast gewohnheitsgemäß, gehe ich in den ersten Stock und setze mich an einen der Tische mit Blick über die Münchner Freiheit. Ich erkenne einen Spielplatz. Gab es den schon immer? Ich greife nach der Speisekarte, möchte wissen, ob es den Bananensplit noch gibt. Den konnte ich mir damals nur selten leisten und der Eierlikör machte mich dann jedes Mal beduselt. Die Bedienung fragt mich nach meinem Wunsch und ich bestelle eine Café Crème. Nachdem die Kellnerin gegangen ist, sehe ich sie sofort. Isi. Eigentlich Frau Sybille Schaffer. Sie sitzt nur ein paar Tische entfernt und muss dort Platz genommen haben, während ich die Bestellung aufgegeben habe. Ich denke nach, kann es fast nicht glauben. Über vierzig Jahre muss es her sein. Ihre wasserblauen Augen strahlen und scheinen wie einst ihre Umgebung auszuleuchten. Auch jetzt ist Isi braun gebrannt. Spielt sie noch immer Tennis? Dann stutze ich. Ihr Gesicht ist mit einem engmaschigen Netz aus feinen Linien überzogen. Zum ersten Mal wird mir bewusst, um wie viel älter als ich Isi sein muss. Ich schätze sie auf um die achtzig – und dennoch umgibt sie noch immer diese ganz besondere Aura. Ich grübele. Wie war das damals gewesen?

Richtig. Er hatte gerade den Führerschein gemacht und jobbte nebenher als Schüler in einem teuren Einrichtungsgeschäft in der Innenstadt. Die Geschäftsinhaberin hatte ihn mal wieder losgeschickt. Er sollte an einem Schreibtisch, der bereits ausgeliefert worden war, das defekte Schloss ersetzen. Diese Aufträge mochte er besonders, da sie meistens ein großzügiges Trinkgeld bedeuteten. Diesmal sollte er nicht vor achtzehn Uhr vor Ort sein, hatte die Chefin ihm aufgetragen, denn vorher wäre niemand zuhause.

Das Wohnhaus lag in bester Lage. Er verglich den Namen und läutete bei Schaffer. Nachdem der Summer ertönt war, sprintete er die breite Treppe hoch in den zweiten Stock, immer zwei Stufen auf einmal. Im Türrahmen erwartete ihn eine zierliche Frau. „Schön, dass Sie kommen. Ihre Chefin hat Sie mir schon avisiert“, begrüßte sie ihn. War das Frau Schaffer? Sie hatte ihren Namen nicht genannt. Die Frau trug ein mondänes Kostüm und sah geschäftsmäßig aus. „Ich gehe mal vor“, sagte sie. Leichtfüßig lief sie einen breiten Gang entlang und dann durch zwei lichtdurchflutete Salons. Überall hing Kunst, fast im Überfluss. Petersburger Hängung, nannte man das, hatte er gelernt. Schließlich betraten sie eine kleine Bibliothek. Dort deutete die Frau auf den Sekretär.

Er wollte den Auftrag so schnell als möglich erledigen und weiter. Er nickte und machte sich an die Arbeit. Es war der erste warme Frühlingstag, später war er mit Freunden in einem Biergarten verabredet. Während er arbeitete, plauderte die Frau über den ausbrechenden Frühling. Er hörte aber kaum hin. Dennoch war er über ihr ungezwungenes Auftreten überrascht. Es erschien ihm wie ein Widerspruch zu all dem üppigen Glanz in den Räumen.

„Ich hole mir etwas zu trinken. Möchten Sie auch etwas?“ Er bejahte die Frage. Kaum hatte er die letzte Schraube angezogen und die Schließfunktion überprüft, stand die Frau mit zwei von kühlem Sekt beschlagenen Gläsern wieder im Raum. Oder war es Champagner? Mit einer stilvollen Geste hielt sie ihm ein Glas entgegen. Jetzt war er verwirrt. Er spürte ihren Blick förmlich. Ein zartes Lächeln lag auf ihrem Antlitz, auf ihren Lippen.

„Eigentlich heiße ich Sybille. Aber alle nennen mich Isi.“ Ihre blauen Augen leuchteten eindringlich. Ihre Ausstrahlung war umwerfend. Sie stießen an. Fortan riss Isi ihn mit und weg.

Handys gab es damals noch keine. Es war unmöglich, die Freunde darüber zu informieren, dass er nicht in den Biergarten kommen würde. Das war ihm in dem Moment aber auch ganz egal. Sie liebten sich einen Sommer lang und Isi brachte ihn auf den Geschmack von Beziehungen mit Frauen, die zehn, zwölf oder noch ein paar Jahre älter waren als er. Sie waren souverän, wussten, was sie wollten, und sagten es. Alles war leicht und frei von Pflichten. Schlechtes Gewissen und Scham gab es nicht. Regina brachte ihm bei, wozu auch Champagner nicht zu schade war. Magdalena trug ausgefeilte Dessous und Fabienne am liebsten gar keine. Viktoria lockte ihn nach dem Abitur in ihr Liebesnest hoch über dem Meer bei den Cinque Terre.

Ich schmunzle über meine Erinnerungen und schaue zu den Schülern, die jetzt hier im Café sitzen. Gibt es das auch heute noch? Oder waren die Siebziger Jahre eine einmalige Dekade gewesen, in der in Folge von Pille und der 68er-Bewegung Frauen sich bis dahin noch ungewohnte Freiheiten genommen hatten?

Mit dem Studienbeginn hatte sich für mich vieles geändert. Im zweiten Semester lernte ich Annegreth kennen. Erst wurden wir ein Paar, später heirateten wir. Nach der Scheidung, und nachdem Annegreth nochmals geheiratet hatte, wurde ich ihr Geliebter – und irgendwann ihr Ex-Geliebter. Als sich Jahre später unsere Wege zufällig wieder kreuzten, hatte ich auf einen Neuanfang gehofft. Wie sich herausstellte, war auch Annegreth noch immer verliebt – aber in einen Anderen.

Ich winke der Bedienung und bezahle. Dann blicke ich zu Isi hinüber. Ich würde an ihrem Tisch vorbeimüssen, wenn ich gleich das Café verlasse. Sollte ich sie ansprechen? Würde sie mich noch erkennen? Oder hat sie das längst getan und genau den Tisch ausgewählt, damit ich sie sehen würde, ja sehen musste? Soll ich sie fragen „Kennst du mich noch? Erinnerst du dich an uns?“ Klingt das nicht so, als hielte ich sie für vergreist? Ich beschließe, einfach an ihrem Tisch vorbei- und hinunterzugehen. Als ich aufstehe und einige Schritte in ihre Richtung mache, spüre ich wie einst sofort ihren Blick und kann nicht anders, als sie anzusehen. Und wie einst, ist sie auch heute elegant gekleidet – und auf ihren perfekt geschminkten Lippen liegt die ewige Versuchung. Isi zwinkert mir zu. Ich erwidere ihren Blick, schenke ihr ein Lächeln, gehe die Treppe hinunter und verlasse mein Schulcafé. Draußen freue ich mich über das stille Wiedersehen mit Isi und die Erinnerungen. Ich lache. Ob es den Bananensplit noch immer gibt, weiß ich weiterhin nicht.

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