[LiSe 11/15] Kurzgeschichte: Zu früh

Heute nehme ich eine S-Bahn früher. Einmal nicht die Letzte sein. Ausnahmsweise bin ich sogar stolz auf mein Gastgeschenk.

Wein kann man nämlich vergessen. Er würde die Flasche auspacken, den Arm lang machen und mit zur Seite geneigtem Kopf das Etikett begutachten. Dann würde ganz kurz ein Ausdruck von Resignation über sein Gesicht huschen, der aber, wenn er die Flasche auf die marmorne Arbeitsfläche gestellt hätte, einem neutralen Lächeln gewichen sein würde. Dann würde er den Champagner aus dem Kühler ziehen, mit einer weißen Stoffserviette den Nebelschleier vom Etikett wischen, während sie überschwänglich erzählen würde, wie sie dieses Ausnahmegetränk auf ihrer letzten Tour durch das Valée de la Marne in einem kleinen Weingut entdeckt hätten. Also keinen Wein. (mehr …)

[LiSe 10/15] Alte Freunde

Jetzt fängt er wieder an zu schreiben, mein alter Freund Wolf, anstatt beim Schachspiel zu bleiben oder in seinem Labor. Seit Jahren droht er damit, wieder zu schreiben. Wie ich ihm drohe, die Violine zu spielen.

Gelegentlich reisen wir gemeinsam. Wenn wir im Zug nach Rom fahren oder nach Wien, bricht er plötzlich das Gespräch ab und sagt „übrigens, ich werde wieder schreiben.“ Fahren wir mit dem Pkw von München nach Paris, dreht er spätestens bei Ulm den Recorder leise und flüstert mir ins Ohr, „Max, ich schreibe wieder“. (mehr …)

[LiSe 06/15] Kurzgeschichte: Einer ohne Steuermann

Könnte Süden auch Norden sein? Ach Schätzchen, sagte Corinna, und was machen wir denn dort, im Süden, was sollen wir da anfangen, wovon leben wir? Nenn mich nicht Schätzchen, sagte Elfie, warum bist du wieder so ekelhaft vernünftig, so nordisch, Vernunft ist Norden, wir machen, wozu wir Lust haben, wir malen, wir züchten Blumen, wir halten eine Ziege, wir brauchen dort nicht viel zum Leben, das ist doch das Gute am Süden, keine Warenhäuser,
keine Autos, keine Männer, keine Heizung. Ein paar Balkone weiter ging ein Glas zu Bruch, und eine Frauenstimme, angetrunken mit erzwungener Strenge, sagte: du gehst jetzt ins Bett, das ist mein letztes Wort. Ein Kind maulte, und eine Männerstimme trompetete: du tust, was Mammi dir sagt. Das Kind schrie. Ohrfeigen fetzten. Die Männerstimme tobte immer lauter und das Kind schrie dagegen an. Wurden Messer gezückt? Noch ein Glas ging zu Bruch.

Hast du einen Joint da? sagte Corinna, sie stellte ihre Stimme auf gelangweilt. Wie bitte, sagte Elfie, ich denke, du rauchst nicht mehr, ich meine: wir rauchen nicht mehr, und Corinna sagte: heute ist eine Ausnahme. Wenn das so ist, sagte Elfie, dann mach ich uns einen.

Sie stand auf und ging in die Küche.  Corinna trank Wasser. Das war der Beweis: Elfie hatte Gras. Morgen ist dein Zimmer dran, Liebe. Wenn sie Gras hatte, weiß der Teufel, was sie sonst alles hatte. Und wieder der Scheißgedanke, alt zu sein, zu zerfallen, zu vergehen. Kapverdische Inseln, Kleinkinderkack. Sie hatte keine Ahnung, wo diese Inseln lagen. Schattenlose Einöden, irgendwo im Meer. Inseln, warum immer Inseln, Inseln sind eigentlich das letzte. Warum sagst du nicht, Süden ist auch auf einem Küchenbalkon, Liebe, Süden ist bei dir, mit dir, Süden ist die Landschaft zwischen deinen Schenkeln und meinen, du bist der Süden, du und ich, wir. Sag es, und ich gehe mit dir, wohin du willst, wir fliegen in die Galaxis, wir pilgern ins Igluland. Bin ich gekränkt? Nein, ich werde dir niemals Vorwürfe machen, alles, was du willst, wohin du willst, auch auf diese Inseln. Nur bitte bald. In mir ist eine hohle Stelle, die dehnt sich rasch aus, die schreit nach Füllung.

Elfie kam und hielt die schmale weiße Tüte in der Hand, die kleine Schalmei, die Schalmei der glückseligen Träume. Der Stoff ist in der Dose mit der Aufschrift Vanillezucker, falls du mal suchst. Sie setzte sich und steckte den Joint an. Sie nahm zwei Züge und gab ihn Corinna, und Corinna dachte: was heißt falls du mal suchst? Du kommst doch mit auf die Kapverdischen Inseln, sagte Elfie, du hast doch hier nichts zu tun, und vielleicht können sie da noch einen Arzt brauchen. Corinna inhalierte den ersten Zug so tief und lange, daß sie fast vom Stuhl fiel, und hörte trotzdem nicht auf zu denken, das war das gute bei Haschisch: du denkst weiter, jedenfalls am Anfang, wenn auch immer schneller, und die Gedanken werden bunter. Sie dachte an die feste Stelle auf Lebenszeit, die Altersversorgung, sie dachte an die bessere Wohnung, an ein Haus mit Garten, nichts Riesiges, aber eine sichere Sache, und du könntest den ganzen Tag nur das tun, was dir Spaß macht, Liebe, ich werde für dich sorgen und dich lieben, bis daß.

Natürlich, sagte Corinna, natürlich komme ich mit, jederzeit überallhin. Sie reichte Elfie den Joint, und Elfie sagte, ich hatte schon Angst, du kommst nicht mit, du nimmst mich nicht ernst, trinken wir auf die Kapverdischen Inseln. Auf Bougainvillen im Dezember, sagte Corinna. Auf Bougainvillen immer, wo und wann, deine und meine Bougainvillen. Sie stießen an und tranken. Elfie sagte, Anfang Oktober geht’s los. Corinna stand auf und küßte sie über den Tisch hinweg auf beide Augen.

Sie rauchten abwechselnd, ziemlich schnell hintereinander, und ein paar Stockwerke unter ihnen hatte jemand eine Tangoplatte aufgelegt. Zwischen verquirltem Bandoneongeschörkel nölte eine Edelrauchstimme: Heute kann ich mit Schmerzen betrachten, was einst meine Träume erfüllte. Auch das noch, sagte Corinna und fing an zu lachen, sie lachte ziemlich hektisch: was einst meine Träume erfüllte, das ist gut, das ist gut, einst meine Träume. Elfie steckte den Joint, der inzwischen ausgegangen war, wieder an. Wir fahren nach Lissabon, sagte sie, da nehmen wir ein Schiff nach Südwesten, und dann sind wir frei, Liebe, wir sind wirklich frei, kannst du spüren, wie frei wir sind, spürst du’s …
Hans-Dieter Eberhard
(Auszug aus dem gleichnamigen Roman)

[LiSe 05/15] Kurzgeschichte: Entscheidungen

Entscheidungen

Immerzu gilt es, Entscheidungen zu treffen. Immer wartet irgendwer auf eine Auftragsbestätigung. Soll man schlafende Hunde streicheln? Fallen drei Schlappen in Folge schon unter die Seuchenverordnung? Und kann man einem Fuß den Marsch blasen? Die Antworten werden nicht leichter. Birnen oder Äpfel, Rundhals oder V-Ausschnitt. Ein Kerl muss eine Meinung haben. Dabei vergisst man leicht, wie schwer auch der Befugte es hat. Überall Kreisverkehre, überall Gestrüpp. Auch die Dienstwege führen zu nichts.

Dabei: An Angeboten mangelt es nicht. Sand am Meer und im Getriebe, Tropfen im Ozean und auf dem heißen Stein, seines Glückes Schmied oder Amboss – es ist wie so häufig eine Frage der Perspektive. Die Wechselkurse tragen ihren Namen zu Recht. Und Vorsicht: sie können jederzeit gegen dich verwendet werden. Vermögensnachteile sind niemals auszuschließen, bedürfen aber der schriftlichen Genehmigung. Das alles ist bekannt und muss nicht weiter kommuniziert werden. Egal wie schnell man läuft, letztlich bleibt man auf seiner Jugend sitzen. Angebot und Nachfrage. Wer fragt schon nach, wenn ihm Hören und Sehen vergangen ist.

Dennoch: lebenslanges Lernen. Die Welt ist ein grünes Klassenzimmer. Auch Affenbrotbäume taugen als Multiplikatoren. In ihrem Schatten ist gut dösen. Dem Vernehmen nach sollen die Sperrbezirke für sitzende Tätigkeiten demnächst ausgeweitet werden. Den Seinen gibt der Schöpfer Zucker, allen anderen gibt er es im Schlaf. Süße Träume sind ein frommer Wunsch. Saurer Schweiß ist ein Aggregatzustand, der zunehmend für überflüssig gehalten wird. So geht die Zeit dahin, und wir sitzen im Staubmantel und sehen den Tagen beim Wegdämmern zu. Die Ewigkeit kann warten. Derweil schreitet die Arbeit am persönlichen Netzwerk unaufhörlich voran. Wer schläft, sündigt nicht. Wer arbeitet, kann trotzdem in den Himmel kommen. Entscheidend ist, den Aufwachmodus rechtzeitig zu aktivieren.
Jürgen Flenker

[LiSe 04/15] Kurzgeschichte: Pulvergeier

Willst du, dass ich mitfahre zu Annas Beerdigung?“, fragte Anton unsicher. „Wenn du mich auf der Trauerfeier nicht dabeihaben willst, verstehe ich. Ich kann dich auch nur für die Fahrt begleiten. Du hattest gesagt, Samstag wäre die Bestattung. Da müsste ich mir nicht mal frei nehmen. Also ich würde mir natürlich frei nehmen, wenn es unter der Woche wäre. Und wenn du wollen würdest, dass ich mitkomme.“

Elisabeth war sehr starr, sie konnte noch keineswegs begreifen, dass Anna tot war.

Der kleine Friedhof war angefüllt mit Menschen, alle standen im leisen Sonnenschein, der durch die Bäume sickerte. Manche unterhielten sich oder standen hilflos beisammen. Elisabeth kam knapp, den letzten Anschlusszug hatten sie verpasst, nun ging sie schwitzend und außer Atem auf Annas Eltern zu.

„Entsetzlich muss das sein“, dachte sie, dann schüttelte sie schweigend Hände. Sie hatte die Vanderbeks seit 16 Jahren nicht gesehen, alt waren sie geworden.

Von hinten legte sich eine Hand auf Elisabeths Schulter.

„Schön, dass du gekommen bist“, sagte David, Annas Bruder. Elisabeth drehte sich langsam um, versuchte Zeit zu gewinnen. Seine Stimme hatte sich gar nicht verändert. Wie würde er jetzt aussehen?

„Setz dich vorne neben uns bitte, wir würden uns freuen. Du warst Annas beste Freundin.“ Elisabeth schluckte, sie wollte jetzt auf keinen Fall weinen.

„Das ist meine Frau Klara, und Milena, meine Große. Sie ist vier geworden im Mai.“ Eine kleine sanfte Frau und ein rotzverschmiertes Mädchen streckten freundlich ihre Hände aus. Elisabeth schüttelte beide, nickte, lächelte. Gott, sah sie Anna ähnlich. War David verrückt? Wie konnte ein Mann sich eine Frau suchen, die aussah wie die eigene Schwester? Das war krank, in höchstem, verwirrendem Maße krank. Klara sagte David etwas ins Ohr und fuchtelte dabei mit den Händen. Wie Anna! Anna gestikulierte immer wild, bei jedem Wort. Milena ging umher und riss ein paar Blätter von den Büschen; wurde zurechtgewiesen und trat auf Elisabeth zu. Prüfend blickte sie an ihr hinauf.

„Ich bin schon vier.“

„Aha“, meinte Elisabeth, die verzweifelt versuchte, Klaras Ähnlichkeit mit Anna einzuordnen. Milena machte ein altkluges Gesicht und zeigte acht ihrer Finger.

„Weißt du was? Marienkäfer fressen Läuse, und“, sie machte eine bedeutungsvolle Pause, um den Gehalt ihrer Mitteilung wirken zu lassen, „und Geier fressen tote Tiere! Geier fressen Fleisch.“ Das Wort Fleisch zog sie dabei so in die Breite, dass man das Zermalmtwerden förmlich spürte.

„Papa, haben die Geier Tante Anna gefressen?“, wandte sie sich an David.

David schluckte.

„Nein, haben sie nicht!“

„Aber Geier fressen tote Tiere. Und tote Leute.“

„Das stimmt. Sie könnten auch die Tante Anna fressen, wenn die einfach herumliegen würde“, sprang Elisabeth ein, und wusste gar nicht warum.

Milena unterbrach eifrig:

„Ja, dann fressen die Geier ihr Fleisch!“

Elisabeth blickte kurz ins Leere. „Aber Anna liegt nicht einfach irgendwo auf der Straße, sondern sie wurde verbrannt und ihre Asche begraben. Wenn jemand bei uns stirbt, dann begraben wir diesen Menschen.“

Milena überlegte. Sorgfältig entwickelte sie ihren Gedanken weiter:

„Die Geier können dann mit ihren spitzen Schnäbeln die Erde weghacken und die toten Leute rausfressen.“

„Nein, das machen Geier nicht! Die graben nicht in der Erde nach Toten. Außerdem ist Tante Anna verbrannt. Da ist kein Fleisch mehr, das die Geier essen könnten“, meinte David bestimmt.

„Hat die Anna kein Fleisch mehr jetzt?“

„Nein, sie ist jetzt Asche. Das ist eine Art Pulver.“

Milena war begeistert:

„Dann können Pulver-Geier die Tante Anna ausgraben und fressen!“

„Nein Milena, Geier mögen kein Pulver.“

„Hm. Aber wir haben noch Fleisch“, stellte Milena fest, und um sich zu vergewissern, fasste sie mit der rechten Hand ihren linken Arm und drückte an ihm herum.

„Wir haben noch Fleisch – aber das mögen die Geier nicht, weil wir sind nicht tot!“, fasste sie befriedigt zusammen.

„Richtig“, nickte Elisabeth schwach. Es läutete, sie durften in die Kirche.

Lena Nützel

Der Text ist dem Roman „Festhalten“ entnommen.

[LiSe 03/15] Kurzgeschichte: Wetten dass …?

Ich fahr nicht gern mit der U-Bahn“, sagte Philip. „Aber wenn mein Auto streikt, bleibt mir nichts anderes übrig. Da hock ich dann und seh mir die Leute an, mit ihren Handys und Smartphones und Tablets, die sich für nichts anderes interessieren, und frag mich ernsthaft, was aus der Menschheit mal werden soll. Vor allem über die mit den E-Books wunder ich mich. So ein Teil ist doch sowas von seelenlos. Während ein Buch, das hat für mich was Sinnliches. Ein Buch hat für mich eine Seele.“
„Du bist absolut von gestern“, lachte Hannes. „Den E-Books gehört die Zukunft. Buchläden werden überflüssig, Hugendubel kann dichtmachen. Und ich überlege mir auch, so ein Teil anzuschaffen.“

Philip seufzte. Und dann wurde er lebhaft: „Hab ich dir eigentlich mal erzählt, wie ich Steffi kennengelernt hab? Ich bin in der U6. Neben mich setzt sich eine, die zieht aus ihrem Rucksack ein Buch. Der Distelfink von Donna Tartt. Ich bin sofort begeistert von der Frau. Den gleichen Roman habe ich nämlich in meiner Tasche. Ich kram ihn raus, sie sieht es, guckt mich an, als wär ich von einem andern Stern. Wir fangen an zu lachen. Und da sah ich, die Frau ist wunderschön. Wir sind gleich ins Gespräch gekommen, wie genial der Roman wär. Wenn jeder nur in sein E-Book gestarrt hätte, wär das nicht passiert, sie wäre an der nächsten Station ausgestiegen, und mein Glück mit ihr. Ich hab sie dann ins Rischart zu einem Cappuccino eingeladen. Und das war der Anfang. Wetten, dass du null Chance hast, eine Frau kennenzulernen, die sich nur für ihr elektronisches Teil interessiert? Ich setze einen Kasten Bier.“

Hannes nahm die Wette an. Da er selbst gern Krimis las, entschied er sich, um seine Charmeoffensive zu starten, für Arne
Dahls Falsche Opfer. Am nächsten Tag fuhr er mit der U6, sah sich nach einem Opfer um und hatte es schnell entdeckt: Ein junges Mädchen, das sich über ihr E-Book beugte. Hannes setzte sich ihr gegenüber und ließ seinen Rucksack auf ihre Füße fallen. „Entschuldigung, das war keine Absicht.“ – „Hä?“, machte sie, sah kurz auf und starrte wieder auf ihr Teil.

„Verzeihung, darf ich fragen, was Sie gerade lesen?“ – „Dürfen Sie nicht. Frage ich Sie vielleicht, was sie heute Morgen gefrühstückt haben?“

„Dürfen Sie gerne.“ Hannes zog seinen Krimi heraus. „Arne Dahl. Hab ich zu meinem Kaffee verschlungen, irre spannend. Das sollten Sie unbedingt …“ – „Sie nerven“, sagte sie, ohne aufzusehen.

„Das war nicht meine Absicht. Aber darf ich raten, was Sie so fasziniert? Ich tippe auf den Distelfink von Donna Tartt. Das soll ja ein ganz fantastischer Roman sein.“ – „Lassen Sie mich in Ruhe.“

Ihr giftiger Blick suggerierte ihm die Vorstellung von zwölf Flaschen Bier, die gerade in Philips Kühlschrank verschwanden. Aber noch gab er nicht auf.

„Eine letzte Frage“, er lächelte charmant, „warum lesen Sie nicht ein richtiges Buch? Eins zum Anfassen. Das ist doch viel sinnlicher.“ – „Mit Ihrer Sinnlichkeit gehen Sie mir auf den Geist. Außerdem sind Bücher von gestern. Und jetzt hören Sie auf mit Ihrem Gelaber.“

„Vielleicht haben Sie recht. Bücher sind von gestern. Aber Arne Dahl ist nicht von gestern.“ – „Krimis interessieren mich nicht. Ich lese Klassiker, Dostojewski und Tolstoi, wenn Ihnen das ein Begriff ist.“ Sie schaltete ihr E-Book aus und verstaute es in ihrer Tasche.

„Arne Dahl ist ein Klassiker“, sagte Hannes. „Der Klassiker unter den Krimiautoren. Ich würd es Ihnen gern mal leihen.“

Sie nahm das Buch und beäugte es. „Sind Sie vom Meinungsforschungsinstitut? Oder warum sind Sie so lästig?“

„Nein“, beteuerte er. „Ich finde es einfach nur toll, dass Sie sich für Klassiker interessieren. Deswegen würde ich Sie gern näher kennenlernen.“

Sie stand auf. „Ich muss raus. Da haben Sie Ihr Buch!“

Hannes winkte ab. „Ich schenke es Ihnen. Wollen wir uns morgen im Rischart treffen? Und Sie sagen mir, ob Sie vielleicht Ihre Meinung geändert haben? Um ehrlich zu sein, ich würde Sie einfach gern wiedersehen.“

Jetzt lächelte sie. Hannes triumphierte innerlich und holte im Geiste seine Bierflaschen wieder zurück.

„Morgen um zwölf im Rischart? Sie kommen?“ – „Ja“, sagte sie, „ich komme.“

„Wie heißen Sie?“ – „Das verrat ich Ihnen morgen.“

Sie stieg aus, lächelte ihm durch die Scheibe zu und ging beschwingt den Bahnsteig hinunter. Er sah ihr nach, wie sie das Tuch fester um ihre Schultern zog. Wie sie sich mit jemandem unterhielt. Weiterging.

Plötzlich stoppte. Umkehrte.

Hannes’ Herz machte einen Sprung. Dann sah er, wie sie den Krimi aus ihrer Tasche zog, ihn über einen Papierkorb hielt. Wie sie zögerte. Und ihn kurz entschlossen fallen ließ.

Hannes sprang auf, um seine falschen Opfer zu retten. Aber da schloss sich die Tür und die U-Bahn fuhr los. Er fluchte. Die Wette hatte er verloren. Und die Anschaffung eines E-Books würde er sich auf jeden Fall nochmal überlegen. Sonst würde er immer, wenn er das Ding in der Hand hatte, an seinen eben erlittenen Misserfolg denken. Und das musste nun wirklich nicht sein.
Gudrun Golch