Willst du, dass ich mitfahre zu Annas Beerdigung?“, fragte Anton unsicher. „Wenn du mich auf der Trauerfeier nicht dabeihaben willst, verstehe ich. Ich kann dich auch nur für die Fahrt begleiten. Du hattest gesagt, Samstag wäre die Bestattung. Da müsste ich mir nicht mal frei nehmen. Also ich würde mir natürlich frei nehmen, wenn es unter der Woche wäre. Und wenn du wollen würdest, dass ich mitkomme.“

Elisabeth war sehr starr, sie konnte noch keineswegs begreifen, dass Anna tot war.

Der kleine Friedhof war angefüllt mit Menschen, alle standen im leisen Sonnenschein, der durch die Bäume sickerte. Manche unterhielten sich oder standen hilflos beisammen. Elisabeth kam knapp, den letzten Anschlusszug hatten sie verpasst, nun ging sie schwitzend und außer Atem auf Annas Eltern zu.

„Entsetzlich muss das sein“, dachte sie, dann schüttelte sie schweigend Hände. Sie hatte die Vanderbeks seit 16 Jahren nicht gesehen, alt waren sie geworden.

Von hinten legte sich eine Hand auf Elisabeths Schulter.

„Schön, dass du gekommen bist“, sagte David, Annas Bruder. Elisabeth drehte sich langsam um, versuchte Zeit zu gewinnen. Seine Stimme hatte sich gar nicht verändert. Wie würde er jetzt aussehen?

„Setz dich vorne neben uns bitte, wir würden uns freuen. Du warst Annas beste Freundin.“ Elisabeth schluckte, sie wollte jetzt auf keinen Fall weinen.

„Das ist meine Frau Klara, und Milena, meine Große. Sie ist vier geworden im Mai.“ Eine kleine sanfte Frau und ein rotzverschmiertes Mädchen streckten freundlich ihre Hände aus. Elisabeth schüttelte beide, nickte, lächelte. Gott, sah sie Anna ähnlich. War David verrückt? Wie konnte ein Mann sich eine Frau suchen, die aussah wie die eigene Schwester? Das war krank, in höchstem, verwirrendem Maße krank. Klara sagte David etwas ins Ohr und fuchtelte dabei mit den Händen. Wie Anna! Anna gestikulierte immer wild, bei jedem Wort. Milena ging umher und riss ein paar Blätter von den Büschen; wurde zurechtgewiesen und trat auf Elisabeth zu. Prüfend blickte sie an ihr hinauf.

„Ich bin schon vier.“

„Aha“, meinte Elisabeth, die verzweifelt versuchte, Klaras Ähnlichkeit mit Anna einzuordnen. Milena machte ein altkluges Gesicht und zeigte acht ihrer Finger.

„Weißt du was? Marienkäfer fressen Läuse, und“, sie machte eine bedeutungsvolle Pause, um den Gehalt ihrer Mitteilung wirken zu lassen, „und Geier fressen tote Tiere! Geier fressen Fleisch.“ Das Wort Fleisch zog sie dabei so in die Breite, dass man das Zermalmtwerden förmlich spürte.

„Papa, haben die Geier Tante Anna gefressen?“, wandte sie sich an David.

David schluckte.

„Nein, haben sie nicht!“

„Aber Geier fressen tote Tiere. Und tote Leute.“

„Das stimmt. Sie könnten auch die Tante Anna fressen, wenn die einfach herumliegen würde“, sprang Elisabeth ein, und wusste gar nicht warum.

Milena unterbrach eifrig:

„Ja, dann fressen die Geier ihr Fleisch!“

Elisabeth blickte kurz ins Leere. „Aber Anna liegt nicht einfach irgendwo auf der Straße, sondern sie wurde verbrannt und ihre Asche begraben. Wenn jemand bei uns stirbt, dann begraben wir diesen Menschen.“

Milena überlegte. Sorgfältig entwickelte sie ihren Gedanken weiter:

„Die Geier können dann mit ihren spitzen Schnäbeln die Erde weghacken und die toten Leute rausfressen.“

„Nein, das machen Geier nicht! Die graben nicht in der Erde nach Toten. Außerdem ist Tante Anna verbrannt. Da ist kein Fleisch mehr, das die Geier essen könnten“, meinte David bestimmt.

„Hat die Anna kein Fleisch mehr jetzt?“

„Nein, sie ist jetzt Asche. Das ist eine Art Pulver.“

Milena war begeistert:

„Dann können Pulver-Geier die Tante Anna ausgraben und fressen!“

„Nein Milena, Geier mögen kein Pulver.“

„Hm. Aber wir haben noch Fleisch“, stellte Milena fest, und um sich zu vergewissern, fasste sie mit der rechten Hand ihren linken Arm und drückte an ihm herum.

„Wir haben noch Fleisch – aber das mögen die Geier nicht, weil wir sind nicht tot!“, fasste sie befriedigt zusammen.

„Richtig“, nickte Elisabeth schwach. Es läutete, sie durften in die Kirche.

Lena Nützel

Der Text ist dem Roman „Festhalten“ entnommen.