[LiSe 02/17] Rezension: Ein Schmöker für die Ewigkeit

Die Monacensia ist wiedereröffnet – und damit deren neue Ausstellung „Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann“. Zur besseren Orientierung und/oder zum Nachlesen ist jetzt im Pustet-Verlag der dazugehörige Katalog erschienen. Verfasserin ist Elisabeth Tworek, die Kennerin der bayerischen und Münchner Literaturszene schlechthin. Die Leiterin der Monacensia hat deren literarische Nachlässe gesichtet, Leben und Werk von SchriftstellerInnen wie etwa Frank Wedekind, Ludwig Thoma, Lena Christ, Annette Kolb oder der Familie Mann skizziert und dazu eine Fülle von Fotos, Briefen, Tagebuchnotizen etc. gestellt. Herausgekommen ist ein Schmöker für die Ewigkeit. (mehr …)

[LiSe 01/17] Lyrik-Rezension: Soma

Ein Gedichtband von Birgit Kreipe

Allen an Lyrik Interessierten sei der zweite Gedichtband von Birgit Kreipe empfohlen. Er heißt „Soma“, ist voriges Jahr im kookbooks-Verlag erschienen und enthält als erstes die auf zwei Zyklen aufgeteilten Sonette, mit denen die Autorin vor drei Jahren den Lyrikpreis München gewann. Die Form des Sonetts, lobten damals die Juroren, verwende Birgit Kreipe dazu, die Flut der auf sie einstürzenden Bilder zu dämmen. Der dritte Zyklus, „kinderheim“, offenbart in Langversen, die jedoch nie eine halbe Seite übersteigen, eine Nähe zum Rollengedicht, wobei das erste und das letzte Gedicht denselben Schlussvers haben: „aber ich bin doch längst ausgewandert! und die kinder auch!“ Die Gedichte haben eine Tendenz zur Teichoskopie, zur Mauerschau, die an sich dem Drama zugehört, und in der die Rollen von Sprecher und Angesprochenem strikt getrennt sind. (mehr …)

[LiSe 01/17] Rezension: Wunderbarer Wahnwitz

Helmut Pölls neuer Roman „Die Krimfahrt“

Helmut Pölls „Die Krimfahrt“ ist eine witzige Geschichte mit wunderbaren Formulierungen, spannendem Plot, genialer Behandlung des ewig Wiederkehrenden einer Reise durch die Ukraine, tragischem Schluss, stringent erzählt, plausibel in allem Wahnwitz, traurig und komisch zugleich.

„Es ist schwer zu beurteilen, ob Erika generalstabsmäßig planend oder unbewusst in dieses Fahrwasser geriet“. Gemeint ist zunächst die Planung eines Urlaubs, und Erikas Entschluss ist fest: „Wir fahren jetzt weg.“ Erika ist die Ehefrau von Wilhelm Seidlitz, und der hält nichts vom Wegfahren. Aber wie kann Seidlitz, Hausmeister, Leseratte und Pedant in einer Person, den Wunsch seiner Frau abschlagen, wenn sie ihn mit versteinertem Gesicht aus blauviolett umringten Augen anschaut? Also wohin? Wilhelm erstarrt bei der Vorstellung, nach Afrika zu fliegen. Europa? Auch nicht besser. Er denkt nur an „die unmenschliche Hitze auf dem Petersplatz, wo sie fünf Stunden an einem glühenden römischen Mittag ausharrten, um zwei Minuten einen stecknadelgroßen Papst anzustarren, der dann auch noch Italienisch sprach.“

Dieses Ehepaar, das Züge aus Loriots „Szenen einer Ehe“ hat, wird eine Reise antreten, deren Ende weder Wilhelm noch der Leser erwartet. (mehr …)

[LiSe 12/16] Für den Gabentisch – Kurzrezensionen

Autobiografie und Kulturdiagnose
Lange ist es für mich nur ein Name gewesen.“ So beginnt der französische Intellektuelle und Soziologe Didier Eribon seine autobiografische „Rückkehr nach Reims“, den Gang zurück in sein proletarisches Herkunftsmilieu, holt er die vergessene, die verdrängte Zeit seiner Kindheit und Jugend wieder ins Gedächtnis zurück. Man liest nach, wie es zum Aufstieg des Front National kam, wie das französische Proletariat vom Kommunismus zu Nationalismus, Europafeindschaft, Hass auf Islam und Fremde überlief. Festgemacht hat Didier Eribon das an seinem eigenen Grundkonflikt: wie er einerseits sich als Arbeiterkind den Marx’schen Theorien verpflichtet fühlte, gleichzeitig als Homosexueller in diesem Milieu Gewalt und Ausgrenzung erlebte, wie er andererseits sich ins eigentlich verachtete Bürgertum hocharbeitete, auch dank homosexueller Kontakte, dennoch Ablehnung verspürt. Brexit und Trump-Wahl machen den Bestseller in und aus Frankreich aktueller denn je und für jeden bewussten Europäer ein Must.
Katrina Behrend Lesch

Didier Eribon
Rückkehr nach Reims
Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn
Autobiografie, 240 Seiten
Suhrkamp, Berlin 2016
18 Euro

Eine Frage der Ethik
Der zugrundeliegende Handlungsstrang lässt sich in wenigen Sätzen beschreiben: Ein Neurochirurg – Mitte dreißig, weiß, wohlhabend – überfährt mit seinem SUV nach einer Nachtschicht einen farbigen Einwanderer. Als Arzt kann er erkennen, dass sein Opfer ohnehin sterben wird, er überlässt ihn seinem Schicksal und begeht Fahrerflucht, um seine Karriere und Familie nicht zu gefährden. Am nächsten Tag steht die Frau des Getöteten vor seiner Tür und will ihn erpressen: Sie will kein Geld, sondern seine ärztliche Unterstützung in Form von nächtlichen Operationen in einem illegalen Flüchtlingskrankenhaus. Diese Konstellation wird den Chirurgen vollkommen aus der Bahn werfen: Er verliert sich in Lügengespinste, wird sukzessive alle moralischen Bedenken abbauen, aber auch Leben retten, Begehrlichkeiten schaffen und seine Grundeinstellungen zu Recht und Gesetz mehrfach umstellen. Ein großartiger Roman der 34-jährigen israelischen Autorin und Psychologin Ayelet Gundar-Goshen über die Frage: Wie hätte ich entschieden.
Michael Berwanger

Ayelet Gundar-Goshen
Löwen wecken
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Roman, 432 Seiten
Kein und Aber Pocket
Zürich 2016, 13 Euro

Das sagen, was gesagt werden muss
Der Held des Buchs, ein freier Philosoph, kommt durch günstige Umstände an ein Mietshaus in München-Schwabing und gedenkt, dort eingezogen, das zu tun, was er schon immer tun wollte, nämlich Nichts. Sozusagen Montaignes Turm, mit Musik von Jean Sibelius. Das wird nicht gelingen, denkt der gewiefte Leser, und behält recht. Hier nur einige wenige der Zumutungen: liebestolle Latein- und Griechischlehrerinnen, Grünwalder Immo-Haie, deren geldgierige Gattinnen und deren ähnlich geartete Nichten, penetrante, auf Derivate spezialisierte Anlageberater, der Sender BR-Klassik, dessen Sprecherstimmen aus der Unterwelt kommen, kreative Bestattungsunternehmer mit unsäglichen Tischmanieren. Solche Dinge ärgern uns alle, und Michael Krüger nennt sie endlich beim Namen. Die vielleicht komischste Geschichte ist die eines Lyrikers und seiner rasenden Verehrerin. Tja – wem die stade Zeit zu stad werden könnte, dem lege man das „Irrenhaus“ auf den Gabentisch.
Hellmuth Lang

Michael Krüger
„Das Irrenhaus“
Roman, 192 Seiten
Haymon-Verlag
Innsbruck, 2016
19,90 Euro

Humorvoll und ergreifend
John-Irving-Fans werden auch an die-sem 14. Roman wieder ihre Freude haben – sie werden immer wieder Paral-lelen zu früheren Romanen erkennen. Außenseiter und vermeintlich gescheiterte Lebensläufe, Jesuiten, Religion, Zirkus, Wunder, Todesahnungen. Absurdes Theater. Der Held, Juan Diego, Bestseller-Schriftsteller, aufgewachsen mit seiner Schwester Lupe – die Gedankenlesen und in die Herzen der Menschen sehen kann, deren Sprache aber nur er versteht – als Waisenkinder auf einer Müllkippe in Mexiko, reist zum Jahreswechsel 2010/2011 durch die Philippinen. Todesahnungen und Liebschaften begleiten Juan Diego. Dies ist der eine Strang der Erzählung. Der zweite Strang, mit dem ersten verbunden, erzählt in Rückblenden die Geschichte der Kinder. Vielleicht ist der Roman auch deshalb so spannend, humorvoll und teilweise auch ergreifend, weil das Schicksal Juan Diegos eng mit der Biographie John Irvings verbunden sein könnte, wie der Autor in einem seiner Interviews angedeutet hat. Ein „wunderbares“ Buch!
BEPPO ROHRHOFER

John Irving
Straße der Wunder
Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog
Roman, 776 Seiten
Diogenes Verlag
Zürich 2016, 26 Euro

[LiSe 11/16] Rezension: Lesequal und Lesespaß

Zwei Münchner AutorInnen auf der Longlist zum  Deutschen Buchpreis

Die Spannung ist raus: Der Deutsche Buchpreis ist an Bodo Kirchhoff vergeben, die Shortlist zum Buchpreis hat an Attraktivität verloren, und die Longlist ist endgültig Vergangenheit. Aus Münchner Sicht lohnt allerdings ein Blick auf diese 20, im September empfohlenen Titel: Zwei von ihnen stammen von AutorInnen aus der Landeshauptstadt, und zwar „München“ von Ernst-Wilhelm Händler und „Die Witwen“ von Dagmar Leupold. Händlers neues Buch heißt im Untertitel „Gesellschaftsroman“ und spießt die Münchner High Society auf. Im Mittelpunkt steht die reiche Erbin und Psychotherapeutin Thaddea mit ihrer Villa in Grünwald und ihrem Stadthaus in Schwabing. Partys, Empfänge, Vernissagen, Mode und Porsches nehmen sperrig, langatmig und freudlos breiten Raum ein. Spaß macht die Lektüre kaum, der Erkenntnisgewinn ist gering. (mehr …)

[LiSe 10/16] Rezension: Durchsetzen, worin man anders ist

Thomas Langs Roman über eine eigensinnige Künstlernatur

Immer nach Hause zieht es den jungen Hermann Hesse, er mag so oft weggehen, wie er will. Aber was ist die Bestimmung? Das scheint die Essenz des Buchs zu sein, das der Münchner Autor Thomas Lang über einen weniger bekannten Abschnitt aus dem Leben eines unserer meist gelesenen, 1946 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Dich-ters geschrieben hat. Der Bachmannpreisträger des Jahres 2005 begibt sich in seinem fünften Roman auf dünnes Eis. Denn das Hesse-Bild, das Millionen von Leser in sich tragen, das in mehreren Biografien, auf vielen Fotografien – unverkennbar die hagere Gestalt mit Strohhut und Nickelbrille – dokumentiert ist, aber vor allem seinen Büchern innewohnt, interpretiert er hier auf ganz eigene Weise. Für den Titel ließ sich Lang von Novalis inspirieren. Der lässt seinen Protagonisten Heinrich von Ofterdingen, also einen, der beständig auf der Suche ist, fragen: Wo gehn wir denn hin? Und das Mädchen antwortet: Immer nach Hause. (mehr …)