Vor der Krise
Von Michael Berwanger
Nichts weniger als eine Sensation: Nach 93 Jahren ist ein Roman von Sebastian Haffner erschienen. Kein Essay, kein Sachbuch zur Weltgeschichte, sondern ein Liebesroman. In unerhörtem Tempo beschreibt der damals 23-Jährige den letzten Tag einer 14-tägigen Parisreise im Februar 1932. Raimund Pretzel (so auch Haffners bürgerlicher Name) jagt seiner Angebeteten, die im Roman nur Teddy heißt, hinterher, getrieben zwischen Selbstzweifel, Eifersucht und Neugier. Europa befindet sich gerade in der Zwischenkriegszeit. „Die Krise war noch nicht richtig erfunden“, heißt es einmal. Teddy umschwirrt eine Entourage von Galanen, die sich die Klinke in die Hand geben. Die Hotelzimmer sind klein, das Geld ist knapp, die Zeit noch mehr; Louvre und Eiffelturm wollen noch besichtigt werden. Alles immer in fiebriger Hetze mit dem Gefühl, das Besondere stehe noch bevor. Dass die zweite Generation der Haffner-Erben das Manuskript nun zum Abdruck freigegeben haben, ist ein ganz großes (Lese-)Glück.
Sebastian Haffner: Abschied
Roman, Hardcover, 192 Seiten, Hanser, München 2025
24 Euro
Kind der Natur
Von Stefanie Bürgers
Nur wenige Tage alt und in einer Wolldecke geborgen wird Marie auf den Weiden des französischen Hochlands gefunden. Fortan heißt sie „Marie des Brebis“, Marie von den Schafen. Als Hirtin ist ihr Leben durchdrungen von den Klängen der Natur, dem Geruch der Tiere und der Kraft der Jahreszeiten. Ihr Vertrauen auf das Gute in dieser Welt ist unerschütterlich, sie trotzt Schicksalsschlägen, erlebt zwei Weltkriege und schaut am Abend ihres Lebens dankbar zurück. Die Geschichte einer Frau, die in der kargen Weite des französischen Zentralmassivs aufwächst, entfaltet sich nicht über dramatische Wendungen, sondern durch eine zurückgenommene, respektvolle Schilderung der existenziellen Einfachheit und der Hingabe an das Leben mit allen Zumutungen und Freuden, denen Marie mit leiser Beharrlichkeit begegnet. Marie hat dem französischen Erfolgsautor Christian Signol ihre Geschichte erzählt, und er hat daraus eine der bezauberndsten Biografien des 20. Jahrhunderts geformt.
Christian Signol: Marie des Brebis
Der reiche Klang des einfachen Lebens
Aus dem Französischen von Corinna Tramm
Taschenbuch, 192 Seiten, Unionsverlag, Berlin 2023
13 Euro
Lektüre im Ohr
Von Sevda Cakir
Endlich: Andrej Murašov meldet sich mit „Der Himmel ist so laut“ zurück, auch mit einem zweiten Album „Lost Tapes“, das Ohrwurm-Potenzial hat. Der Musiker und Autor lässt seine Hauptcharaktere aus seinem Debütroman „Alles Gold“ weiterwachsen. Sie erfahren das Leben mit krasser Wucht und müssen sich mit den intuitiv getroffenen Entscheidungen zurechtfinden. Ein geliebter Mensch ist aus ihrer Mitte gerissen worden. Der, der die Gruppe zusammengehalten hat. Große Gefühle mischen sich in die neuen Phasen der Protagonist*innen, in denen plötzlich alles zu entgleiten droht. Erneut gelingt es dem in Hip-Hop promovierten Doktor sowohl die Perspektiven der jungen Erwachsenen verständnisvoll einzubringen als auch den jungen Lesenden Wege aufzuzeigen, mit harten Ereignissen umzugehen. Eine vorbildlich dezente Art, Generationen zu versöhnen. Genau das, was eine Gesellschaft in Zeiten des Hasses braucht. Überraschung in der Musik gibt es auch: Andrej – aka Partizan – kann nicht nur rappen, sondern auch singen.
Andrej Murašov: Der Himmel ist so laut
Roman, Hardcover, 288 Seiten, Katapult Verlag, Greifswald, 2025
24 Euro
Stadt – Land – Schuss
Von Markus Czeslik
Am Anfang war die Hirschkuh. Im Dorf hält sich seit langem hartnäckig die Legende: Wer dieses Tier überfährt, hat selbst nur noch ein Jahr zu leben hat. Das macht Ingo selbstverständlich nervös, vor allem als sein Wildunfall unter den Alteingesessenen die Runde macht. Martina Behm bringt uns in ihrem ersten Roman das breit gefächerte Personal über weite Strecken sehr unterhaltsam näher. Dabei dürfen die gängigen Stadt-Land-Klischees nicht fehlen – vom Burn-out-bedrohten Start-up-Entrepreneur über den einsamen Jäger bis zum chauvinistischen Landwirt ist alles dabei. Doch auch wenn die Gegensätze erwartbar vorgezeichnet sind, gelingt es der Autorin durch eine Vielzahl von Perspektivwechseln, Verknüpfungen von Lebensläufen, überraschenden Wendungen und eingestreuten Rückblenden, unser Interesse hochzuhalten. Das ist weniger dramatisch zugespitzt, als direkt aus dem wahren Leben geborgt. Ein moderner, im hohen Norden angesiedelter Heimatroman, der auch neben einer Dörte Hansen dramaturgisch und sprachlich zu bestehen weiß. Moin Moin!
Martina Behm: Hier draußen
Roman, Hardcover, 477 Seiten, dtv, München 2025
24 Euro
Ein Bild sieht uns an
Von Katrin Diehl
Das hat schon etwas Geniales: die beredte Geschichte des bekannten expressionistischen Gemäldes „Zwei weibliche Halbakte“ aus der Sicht der beiden darauf Abgebildeten zu erzählen. Die Graphic Novel des französischen Comiczeichners Luz (Rénald Luzier) beginnt mit einem weißen Blatt, darunter: „1919“. Dann wird fetzenartig und peu à peu das Gegenüber sichtbar: der erschaffende Maler – Otto Mueller – mit konzentriertem Gesicht, das kleine Wäldchen dahinter, schließlich die Ehefrau wie Muse Maschka, die das Bild begutachtet etc. „Zwei weibliche Halbakte“ ist eine so intensive wie packende (Auto-)Biografie eines Gemäldes, das der Betrachtende (des Buches) nie zu Gesicht bekommt (im Nachwort dann doch). Er sieht, was das Bild sieht: andere Betrachtende, schwarze Tücher, die es verhüllen, eine Menora am Fenster, Nazifahnen vor dem Fenster … Das Gemälde wird zum Spiegel der Geschichte. 1924 hatte der Anwalt Ismar Littmann das Bild erworben. 1935 wird es von der Gestapo beschlagnahmt, wird in die Ausstellung „Entartete Kunst“ gezerrt. 1999 kann es restituiert werden, kommt ins Museum Ludwig in Köln. Luz demonstriert in „Zwei weibliche Halbakte“, dass in großer Kunst Leben, Liebe steckt. Luz ist ein Überlebender des Terroranschlags auf die Zeitschrift „Charlie Hebdo“.
Luz: Zwei weibliche Halbakte
Graphic Novel
Aus dem Französischen von Lilian Pithan, Hardcover, 192 Seiten, Reprodukt, Berlin 2025
29 Euro
Halb und halb
Von Slávka Rude-Porubská
Sich einfügen in das Leben anderer, sich dafür aber dem eigenen Leben entfremden: Seit Paulína, die gelernte Krankenschwester aus der Slowakei, über eine Agentur an die Familie Steiner im österreichischen Kremstal vermittelt wurde, ist sie nur noch eine Teilzeit-Mutter für ihre zwei Söhne – genauer: eine Mutter für jeweils zwei Wochen im Monat. Die anderen zwei Wochen ist sie für Irene zuständig, die nach einem Schlaganfall Aufsicht und Hilfe braucht. Irenes Tochter Klara, die als ambitionierte Architektin im Beruf nicht zurückstecken will, hat Paulína engagiert – und ist mit ihrem Einsatz vollumfänglich zufrieden. Klaras Entlastung ist jedoch nur für den Preis der zunehmenden Selbstaufgabe von Paulína möglich. Die Care-Arbeit als käufliche Dienstleistung erzeugt zwischen den gleichaltrigen Frauen eine Schieflage, die zu einem tödlichen Unfall führt. Susanne Gregor setzt in ihrem fulminanten Roman nicht auf explizite Sozialkritik. Feinfühlig und überzeugend führt sie uns die latente Dynamik von Ungleichheit, ökonomischer und emotionaler Ausbeutung und mangelnder Empathie vor Augen.
Susanne Gregor: Halbe Leben
Roman, Hardcover, 192 Seiten, Zsolnay, Wien 2025
23 Euro
Selbstermächtigung
Von Ursula Sautmann
Der Ich-Erzähler aus „Als wir Schwäne waren“ von Behzad Karim Khani ist neun, als er mit seinen Eltern aus dem Iran nach Deutschland kommt. Seine Mutter versteht das Wort „formt“ nicht, als ein Mann an ihr vorbeikommt, der ein T-Shirt trägt mit der Aufschrift: Bier formt diesen schönen Körper. Und seinem Vater passen die deutschen Schuhe nicht. Der Junge wächst auf in einer Siedlung, die er ausdrücklich als „nicht spektakulär gefährlich oder dreckig“ bezeichnet, die ihn aber dennoch lehrt, Demütigungen einzustecken und Schläge auszuteilen. Der Roman lässt seine Leser*innen erleben, wie aus Wut Gewalt entsteht. Der Junge lernt, Orte zu finden, an denen er allein ist und sein Anderssein einen Raum hat. Voller Verwunderung – und am Ende mit großem Respekt – schaut er auf seine Eltern, die um ihre Würde kämpfen. Nie liest man von Selbstmitleid zwischen den Zeilen, und man glaubt, dass Selbstermächtigung möglich ist. Ein Buch, das zu lesen glücklich macht, bei allem Schmerz, der über den Seiten liegt.
Behzad Karim Khani: Als wir Schwäne waren
Roman, Hardcover, 188 Seiten, Hanser, Berlin 2024
22 Euro
Aus dem Meer
Von Marie Türcke
Manch einer hat vielleicht schon von diesem Trend gehört: Menschen, die Bücher irgendwo liegen lassen, als Geschenk für andere. So kam das Buch „Der Junge aus dem Meer“ von Garrett Carr in meinen Besitz, an einem Gate am Flughafen. Innen steht nur „For someone who loves to read“. Genauso kam auch Brendan in das kleine Fischerdorf Donegal im Norden Irlands – ein Findelkind, angeschwemmt vom Meer. Ein kleines Baby, das im Laufe seines Großwerdens nicht nur das Leben derer verändert, die es ohne Weiteres aufnehmen, sondern das ein ganzes Dorf prägt. Als geliebter Sohn von seinen Pflegeeltern Ambrose und Christine, verachteter Rivale seines Stiefbruders Declan und kleines Wunder des Dorfes, ist Brendan ein Zwischenwesen aus einem Einheimischen und Fremden, jemand, der dazugehört und doch Fragen aufwirft und alte Muster aufzubrechen vermag. Inmitten der Umbrüche des späten 20. Jahrhunderts in Irland, sucht ein ganzes Dorf seinen Platz, miteinander und in der Welt. Besonders ist auch der Erzähler: Das Dorf erzählt hier seine eigene Geschichte, als kollektives „wir“ beschreibt es 20 Jahre in Brendans Leben in Donegal.
Garrett Carr: Der Junge aus dem Meer
Roman, 416 Seiten, Aus dem Englischen von Kathrin Razum, Rowohlt, Hamburg 2024
25 Euro