In Geiselgasteig wird seit 100 Jahren Literatur verfilmt

Von Ina Kuegler

Am 2. März 2019 ist es soweit: In Geiselgasteig, vor den Toren Münchens, wird die Ausstellung „100 Jahre Filmstadt Bavaria“ eröffnet. Auf einer Zeitreise von 1919 bis heute kann das Publikum deutsche und internationale Filmgeschichte nachvollziehen – anhand von Fotos, Requisiten, Dekorationen, Drehbüchern und Kostümen. Hundert Jahre Bavaria-Filmgeschichte: Das bedeutet nicht nur frühe Filme von Hitchcock, harmlose Nettigkeiten aus den 50er Jahren wie „Das Wirtshaus im Spessart“, internationale Erfolge wie „Das Boot“ oder TV-Soaps wie „Marienhof“. 100 Jahre Filmgeschichte würdigen auch etliche Literaturverfilmungen, und zwar für das Kino und ab den 60er Jahren für das Fernsehen. Das Spektrum reicht von „Wallenstein“ bis zu „Berlin Alexanderplatz“.

Über das Pro und Contra zu Literaturverfilmungen lässt sich semesterlang studieren, referieren und diskutieren – an dieser Stelle sei nur an das Histörchen erinnert, das Alfred Hitchcock gern zum Besten gab: Fressen zwei Ziegen zwei Rollen von einem Film, der nach einem Roman gedreht worden ist. Sagt die eine Ziege zur anderen: „Mir war das Buch lieber.“ Dabei können Bücher noch schmackhafter sein, wenn sie mit einem erfolgreichen Film in Verbindung stehen: So stagnierte die Auflage von Thomas Manns „Tod in Venedig“ bei jährlich 24.000 Exemplaren, nach der grandiosen Visconti-Verfilmung stieg sie auf 77.000.

Die erste Literaturbearbeitung der Geschichte fällt ins Jahr 1898: Louis Lumière dreht „Faust“, der in der Fassung wohl eher eine Adaption ist. In Geiselgasteig wird 1920 die erste Literaturverfilmung abgedreht, und zwar „Der Ochsenkrieg“ nach dem Roman von Ludwig Ganghofer. Produzent dieses Stummfilms ist die 1919 gegründete „Münchner Lichtspielkunst“ (MLK), die 1932 in Konkurs geht. Seither nennen sich die Filmproduzenten im Süden von München Bavaria Film AG, Bavaria Filmkunst AG, Bavaria Atelier GmbH und seit 1987 Bavaria Film. Das Areal in Geiselgasteig ist so groß wie der Kirchenstaat, hat zwölf professionell ausgestattete Studios, Kulissenstraßen und mehrere Drehvillen.

Von „Peer Gynt“ (mit Hans Albers, 1934) abgesehen traut man sich in Geiselgasteig erst in den 60ern des vergangenen Jahrhunderts an Literaturverfilmungen; es sind westdeutsche Fernsehanstalten, die Klassiker in deutsche Wohnzimmer bringen, z. B. „Hamlet“ (1960) mit Maximilian Schell, „Nathan der Weise“ (1966) oder „Othello“ (1967). Erst 1976 beginnt eine neue Ära: Rainer Werner Fassbinder dreht „Bolwieser“ (nach dem Roman von Oskar Maria Graf) und 1979 „Berlin Alexanderplatz“ (nach Alfred Döblin). Für Aufsehen hatte Fassbinder bereits 1974 mit seiner Adaption von Fontanes „Effi Briest“ (Hanna Schygulla) gesorgt. Fassbinder formuliert Sinn und Zweck einer Literaturverfilmung als eine „Möglichkeit der Beschäftigung mit bereits formulierter Kunst“. Es gehe nicht um den „Versuch einer Erfüllung von Literatur“, sondern um eine „eindeutige Haltung des Fragens an Literatur und Sprache“ und um das „Überprüfen von Inhalten und Haltung eines Dichters“. In nur wenigen Tagen erstellt Fassbinder für das ZDF das „Bolwieser“-Drehbuch. Auch „Berlin Alexanderplatz“ schreibt und dreht Fassbinder fürs Fernsehen (WDR): 14 Folgen entstehen in Berlin und in Geiselgasteig, und zwar in den Bavaria-eigenen Kulissen, der Berliner Straße.

Die Berliner Straße ist eine berühmte Kulisse in Geiselgasteig (sie wird 1986 für die legendäre TV-Serie „Die Löwengrube“ zur Münchner Straße). Nicht minder sehenswert ist eine andere Groß-Requisite auf dem Filmstadt-Areal: das bis ins kleinste Detail nachgebaute U-Boot für den Film „Das Boot“ nach dem Bestseller-Roman von Lothar-Günther Buchheim. Der für sechs Oscars nominierte Film und eine dazugehörige Serie verschlingen 1980 rund 30 Millionen Mark. Regisseur Wolfgang Petersen und Kameramann Jost Vacano machen sich drei Jahre später gleich an die nächste Literaturverfilmung, an Michael Endes „Die unendliche Geschichte“. Ende zieht noch während der Dreharbeiten seinen Autorennamen zurück. Zum fertigen Film sagt er: „Wenn es in meiner Macht stünde, würde ich diesen Film am liebsten im Vesuv versenken.“ Fünf Jahre später produziert Bernd Eichinger „Der Name der Rose“ (nach Umberto Eco), die Postproduktion findet in den Tonstudios der Bavaria statt.

Abgesehen von „Herbstmilch“ (nach den Lebenserinnerungen der Bäuerin Anna Wimschneider, Regie: Joseph Vilsmaier), „Faust“ (Regie: Dieter Dorn) und den beiden Erich-Kästner-Verfilmungen „Pünktchen und Anton“ (Regie: Caroline Link) und „Emil und die Detektive“ hält sich die Bavaria vor der Jahrtausendwende beim Thema Literatur zurück. Kurz danach beginnt Regisseur Tom Tykwer in Halle 12 mit den Dreharbeiten für „Das Parfüm“ (nach dem Bestseller von Patrick Süskind). Die letzte große Literatur-Hommage gibt es im Jahr 2005 mit der Bavaria-Produktion „Die Buddenbrooks“ (Regie: Heinrich Breloer). Diese Thomas-Mann-Verfilmung stößt bei der Kritik auf ein verhaltenes Echo – ganz im Gegensatz zu einem Werk, das Breloer bereits fünf Jahre zuvor geschaffen hat: „Die Manns“, ein dreiteiliges Doku-Drama über das Schicksal der Schriftsteller-Familie. Diese mehrfach ausgezeichnete Produktion verfilmt zwar keine Literatur, hat aber den wunderbaren Nebeneffekt, dass München wieder eine originalgetreue Mann-Villa besitzt. Die Filmproduktion lässt sich den Bau, errichtet nach alten Architekten-Plänen, 2,5 Millionen Mark kosten. Dabei handelt es sich nicht um eine Kulisse, sondern um ein richtiges Haus auf dem Filmgelände von Geiselgasteig. Elisabeth Mann-Borgese, jüngste Tochter von Thomas Mann, die an den Dreharbeiten zu den „Manns“ beteiligt war, sagte zu dem Nachbau: „Bis auf ein paar kleine Details ist alles sehr, sehr genau. Die Atmosphäre ist richtig, der Geist ist da.“