Lilly Maiers Sachbuchroman „Arthur und Lilly“ – Das Mädchen und der Holocaust-Überlebende
Von Katrina Behrend Lesch
Es ist ein besonderer Tag, ihr Schicksalstag, wird Lilly später sagen, als Arthur in ihr Leben tritt. Er: 75 Jahre, als Kind dem Holocaust entronnen, in den USA lebend. Sie: ein elfjähriges Mädchen, das er bei einem Besuch seiner Wiener Wohnung aus Kindertagen kennenlernt. Gebannt lauscht sie seinen Erzählungen, die sie nicht mehr loslassen werden. Sie will die Vergangenheit erforschen, nimmt an einem Schülerprojekt über die Juden in Österreich teil. Später studiert Lilly Maier Geschichte in München und Journalismus in New York und beginnt mit dem Schreiben ihres Buches „Arthur und Lilly“. Da ist sie Anfang 20 und ahnt nicht, was für eine immense Recherchearbeit vor ihr liegt. Dem Schicksal von jüdischen Kindern nachzuspüren, die mit einem Kindertransport ins rettende Ausland geschickt wurden, erfordert mehr als nur Geduld, Hartnäckigkeit und Ausdauer. Sie erfordert Hingabe, und die wächst ihr zu durch die Freundschaft mit Arthur. Doch auch er profitiert davon, denn nun wagt er wieder Kontakt zu seiner Vergangenheit aufzunehmen.
Zwei Leben sind es, die der Zufall zusammengeführt hat und daraus eine Geschichte entstehen lässt, die über die Zeit des Zweiten Weltkrieges hinausreicht. Die nicht mit dem Schrecken endet, sondern von Rettung, Hoffnung, Neuanfang handelt. Mit Hilfe von Arthurs Erinnerungen und weiteren Zeitzeugen gelingt es Lilly Maier, ein dramatisches Bild des Kindertransports nach Frankreich zu zeichnen. Anfangs ist die Unterbringung in einem reformpädagogischen Kinderheim fast idyllisch, aber dann rücken die Nazis immer näher, und es geht weiter mit der Flucht über Südfrankreich, Spanien und Portugal bis schließlich nach New York. Von hier aus startet Arthur ein neues Leben, doch seine Familie wird er nie mehr wiedersehen. Ganz nah geht Maier an die Kinder heran, fühlt ihren Ängsten und Nöten nach, der Enttäuschung über den vermeintlichen Verrat ihrer Eltern, die sie „weggeschickt“ haben, der Sehnsucht nach Sicherheit und einem Leben in Freiheit. Wobei es fast unglaublich ist, wie viele Helfer, Geldgeber, Organisationen und Regierungen involviert waren, wie viel Bürokratie und politischer Widerstand überwunden werden musste, um wenigstens diese paar hundert Kinder zu retten.
Verwebt in die ebenso bewegende wie spannende Darstellung der Ereignisse sind Lilly Maiers Recherchen, die in der Jetztzeit spielen. Sie lässt keinen Ort, keine Bibliothek, kein noch so kleines Archiv aus, geht jeder Angabe nach, liest sich durch Tausende von Akten, Briefen, Dokumenten, präziser kann man sich eine Suche nach der Wahrheit kaum vorstellen. Dabei schwingt mit, wie Geschichte sich fortsetzt, wie wir davon beeinflusst werden und wie wir sie mit der in die Gegenwart geholten Vergangenheit lebendig halten und vielleicht daraus lernen. So gesehen ist Arthurs und Lillys Geschichte auch eine Metapher für den Umgang mit Scham und Schuld, und es ist Lilly Maiers Verdienst, für dieses schwierige Thema eine frische ungezwungene Sprache gefunden zu haben.
Lilly Maier
Arthur und Lilly
Das Mädchen und der Holocaust-Überlebende
Zwei Leben, eine Geschichte
384 Seiten, mit 32 S. Farbbildteil
Heyne, München 2018
22 Euro