Von Gabriele Müller

Kinder haben ein Recht darauf, mindestens so blöd zu sein wie ihre Eltern“, sagte Maxim. Sein Vater saß neben ihm, drückte wütend auf die Hupe, als der Autofahrer vor ihm bei Gelb nicht mehr über die Kreuzung fuhr. Der Abend hatte sich doch sehr schnell dem Ende zugeneigt.

„Das Aroma der Cassisreduktion disturbiert mich“, hatte Maxim eine Stunde zuvor gesagt, als sie bei einem alten Schulfreund seines Vaters eingeladen waren. „Und der Wacholder …“

Er müsse mitkommen, hatte sein Vater insistiert. Während Maxims Mutter rechtzeitig den Menstruationsbeschwerdenjoker aus dem Ärmel gezogen hatte.

Es gab fünf Gänge. Die beiden Kinder – Maxim und die Tochter des Gastgebers – saßen mit am Tisch. Mussten. Auf Etikette wurde großen Wert gelegt. Besteck von außen nach innen. Keine Soft Drinks. Keine Kontaktaufnahme mit fremden Knien. Kein Wort über Geschäfte oder aufgespritzte Lippen, auch nichts Theologisches. Die Lautstärke des gesprochenen Wortes hatte sich der Lautstärke der Essensgeräusche anzupassen. Die Kinder durften nur reden, wenn sie dazu aufgefordert wurden.

„Und wie schmeckt es dir, mein lieber Maxim?“, fragte der Gastgeber, der seit sieben Uhr in der Früh am Herd gestanden hatte, um sein Coniglio divino auf den abendlichen Abgang vorzubereiten.

„Der Wacholder drängt sich in den Vordergrund, und der Hase schmeckt ein bisschen abgehangen, wenn ich das so sagen darf“, sprach Maxim wohlerzogen mit leiser Stimme, spitzte sein Mündchen und wischte die missratene Reduktion an der gestärkten Leinenserviette ab. „Außerdem wackelt der Tisch.“

Was folgte, war verschwiegen. Die Köpfe der Erwachsenen versenkten sich in die riesigen Teller. Die Tochter des Gastgebers, ein, zwei Jahre älter als Maxim, öffnete kurz ihre Bluse, lächelte ihn freundlich an und offenbarte zwei Piercings durch ihre Brustwarzen – links ein Hammer und rechts eine Sichel.

Man würde ihn nicht mehr einladen, ihn nicht und seinen Vater auch nicht, das wusste Maxim und bedauerte es angesichts der ihm dargebotenen Aussichten.

„Wie hast du das nur wieder so gut hinbekommen?“, fragte sein Vater voll des Stolzes, als sie bereits auf dem Weg nach Hause waren. „Schlimmer hättest du nicht sein können.“

„Ich hab es so gemacht wie du und wie Mama. Einer von euch beiden hat immer was zu zicken. In Sachen schlechtes Benehmen seid ihr meine absoluten Vorbilder.“

Mit seinen Eltern ging Maxim aus Prinzip nicht weg. Es sei denn, er wurde dafür angemessen entschädigt. Die fünfzig Euro Gage hatte er sich von seinem Vater vorab geben lassen. Andernfalls würde der ihn jetzt herunterhandeln auf fünfunddreißig. Das hatten sie schon öfters gehabt, dieses Knausern. Das machte der bei Handwerkern genauso wie bei seinem eigenen Sohn.

„Maxim, du musst mir helfen. Das sind so nervige Leute. Immer wieder ruft der Alte an und fragt, ob ich nicht kommen will. Einmal geh ich da noch hin, aber dann muss das ein Ende haben. Endgültig. Und du hilfst mir. Bitte!“, hatte sein Vater ihn bereits vor einer Woche angefleht.

„Mach mir ein Angebot“, hatte Maxim geantwortet. „Eins, das ich nicht ablehnen kann.“

Erst drei Stunden bevor der Abend seinen Höhepunkt erreichen sollte, war das Angebot des Vaters endlich vernünftig. Und gegen Geld hatte Maxim noch nie etwas gehabt. Auch dies eine Haltung, die ihn mit seinen Eltern verband.

„Du bist also so blöd wie wir?“, wiederholte sein Vater und hupte erneut. Er hupte gerne und ohne falsche Bescheidenheit. „So blöd wie deine Mutter und ich?“

„So blöd wie du auf jeden Fall“, sagte Maxim.

„Mach dir mal nichts vor, Kleiner“, der Vater grinste fies. „Ich bin das Original und du nur eine Kopie.“

Die Kurzgeschichte stammt aus dem Band „Der bengalische Flip-Flop“, erschienen in der edition buchbar.