Von Hans G. Bauer

Hat die Corona-Pandemie neben vielen anderen merkwürdigen Diskussionen doch auch die Frage ins Leben gespült, ob die Pflege unseres Haars nicht sogar eine des Umgangs mit der menschlichen „Würde“ bedeute. Allerdings ist das mit der Würde, die da am Haar hängen soll, bei genauerer Betrachtung durchaus verschlungen-vielschichtiger, als man es dem Haar zutraut.

Um ganz früh anzufangen: Der „Wasseraffentheorie“ zufolge entledigte sich der Mensch durch die Entwicklung seines Systems der Schweißabsonderung langsam seiner Ganzkörperbehaarung. Danach sei es, das Haar, zu nicht weniger als der „wichtigsten Hauptsache der Welt“ (Nina Bolt) geworden. Stand somit der Schweiß am Anfang der Würde?

Ebenfalls schon sehr früh, so enthüllt es sich dem feinfühligen Betrachter der Haargeschichte, kratzte vor allem dessen Fehlen an der menschlichen Würde. Die Altägypter bekämpften die Glatzköpfigkeit (Alopecia) mit Fetten vom Löwen, Nilpferd, Krokodil und Schlange (übrigens auch schon mit Perücken). Auch bei den Griechen und Römern galt sie als zumindest unerwünscht. Dass dann dem Sohn Karls des Großen der Beiname „der Kahle“ zugesprochen wurde, führt zu einem weiteren Würde-relevanten Aspekt: ‚Kahl‘ war dieser vor allem in Sachen Besitzstand und Macht. Vielleicht ist das ja eine Übersprungshandlung der Sprache selbst – die sich so vielschichtig, weit über das in der Suppe Schwimmende hinaus, auf das Haar und seine so vielfältigen Besonderheiten beruft. Offenbar ist es sogar sprach-würdig!

Wie es scheint, berührt es unser Würdeempfinden schon seit jeher: Kahl-/Glatzköpfigkeit oder Haarausfall erinnern uns unweigerlich an Alterungsprozesse, gar den Tod. Das tut uns dieses fachsprachlich auf so etwas Minimalistisches und, ja, Unwürdiges reduzierte ‚Hautanhangsgebilde‘ über den Lauf unserer Biografie aber immer wieder an. Sei es durch sein (unser?) Ergrauen, sei es als ‚Zeigerpflanze‘ für Erkrankungen, hormonelle Veränderungen, als Nachweisträger unserer Vergnügungen wie Vergiftungen, oder durch sein tagtäglich widerborstiges, eigensinniges, sich gegen Ordnung sträubendes Verhalten.

Aber die Frage der Würde reicht noch sehr viel weiter: Seit Menschengedenken haben sie, die Haare, kulturprägende, religiöse, soziale, machtpolitische, würdeverleihende wie würdevernichtende Funktionen. Sie sind sexuell-erotische Symbole des Begehrens, des Verschlingens, aber auch der Hoffnung (im Haaramulett) wie der Rettung (wie bei Rapunzel). Als rituelle Medien galten/gelten sie als Sitz der Seele und Lebens- (bzw. sehr oft Mannes-)kraft. Sie symbolisieren Zugehörigkeit und Abgrenzung, Religiosität, Individualität wie Gruppenzugehörigkeit, Reichtum wie Armut, Macht wie Unterwerfung. Sie waren und sind Mittel der Selbstdarstellung genauso wie der Züchtigung, Strafe und Demütigung – kaum etwas ist erschütternder als das Bild der Haarhaufen der in den KZs Ermordeten. Aber immer waren und sind sie auch Mittel und Signale des Protests, der Auflehnung (vom Struwwelpeter über die Flowerpowers, die Beatles, Rastas, Skinheads, Irokesen – lediglich bei der Vokuhila (vorne kurz hinten lang) scheint die Frage nach der Vor- oder Rückwärtsgewandtheit etwas umstritten).

Obendrein, und wahrlich nicht zuletzt: Die Haare und die mit ihnen gestalteten Frisuren – also das, was da aus dem Kampf zwischen dem Natürlichen und seinen kulturellen Überformungen immer wieder entsteht – dokumentieren, weit über den üblen, hinterhältigen Verrat der Dalila an Samson hinaus, den immerwährenden Kampf um die Geschlechtermacht und -würde.

Wann immer auch der Mensch begann, sich seiner Würde zu besinnen – und wie er es tat – irgendwie ging das nie ohne die im Wortsinn maßgebliche Beteiligung des Haars. Zwar scheinen die von ihm gesetzten Grenzen im Zeitalter der Haartransplantation, Haarverlängerung und aller möglichen chemisch-pharmazeutischen Manipulationen fast beliebig überschreitbar. Gleichzeitig wuchern in diesem Dschungel der Moderne die Versprechen wie die Herausforderungen der Individualisierung und Einzigartigkeit. Als gesichtsnaher Blickfang kommt dem Haar, der Frisur, bei der Inszenierung des Selbst wahrlich kapitale Bedeutung zu. Vieles deutet darauf hin, dass das Individuum, vielleicht mehr noch denn je, an der ‚Liane‘ Haar hängt. Freilich stellt das die Stimmigkeit des zur Frisur gestalteten Haars mit der Person oder Persönlichkeit, die mit ihr auftritt, auf die (Nagel-)Probe: Bin ich das wirklich, was meine Frisur verspricht?

Schließen wir, wie in diesen Tagen schier unumgänglich, mit einer Expertise. Diesmal nicht mit einer von Robert Koch, sondern der des Perücke mit Zopf tragenden, allwissenden Kulturträgers J. W. v. Goethe: „Setz die Perücken auf von Millionen Locken / Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken / Du bleibst doch immer, was du bist.“ Oder etwas beschwingt-zuversichtlicher mit dem Refrain aus „Hair“: „Lasst es leben, / Denn Gott hat’s mir gegeben, / Mein Haar!“

Nachdem im letzten Jahr die Kurzgeschichte „Brief an die Friseurin“  von Philipp Stoll in den LiteraturSeiten München erschienen war,  sandte uns der Autor Hans G. Bauer diese Betrachtung, die wir unseren Leser*innen nicht vorenthalten wollen.
Ber.