Martin Kordić: „Jahre mit Martha“

Von Ursula Sautmann

Spätestens auf der dritten Seite hat die Leserin den Ich-Erzähler in „Jahre mit Martha“ ins Herz geschlossen. Er lebt mit Eltern und zwei Geschwistern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Ludwigshafen, der Vater ist Bauarbeiter auf Montage, also selten zu Hause, die Mutter Putzfrau. Das Bett des Ich-Erzählers steht hinter dem Vorhang am Ende des Flurs. Die Hausmeisterarbeiten im Friedenszentrum im Keller des Hauses erledigt der jugendliche Ich-Erzähler, die kleine Schwester hilft der Mutter, wo sie kann, backt mit ihr tagelang für ein Fest im Friedenszentrum. Weil eine Professorin eingeladen ist, kauft die Mutter eine gefrorene Schwarzwälder Kirschtorte. „Meine Mutter wollte, dass Frau Gruber aus Heidelberg dachte, wir seien gute Ausländer. Meine Mutter war die Putzfrau von Frau Gruber.“ Frau Gruber wird sich auf kroatische Süßigkeiten stürzen, die Torte wird der Ich-Erzähler essen und behaupten, sie schmeckt. Er wird sich, das erfährt man erst später, in eine Beziehung mit Frau Gruber, der titelgebenden Martha, begeben. Bei Frau Gruber und ihrer Tochter heißt der 15-Jährige von Anfang an Jimmy, dass sein richtiger Name Željko ist, erfährt man erst viele Seiten später.

Mit wenigen präzisen Sätzen und schlichten Worten umreißt der Autor Martin Kordić die Lebensumstände einer Familie, die Bosnien-Herzegowina verlassen hat, um ein anständiges Leben zu führen. Željko ist intelligent und fleißig, er beobachtet genau, er hat Erfolg im Leben. Eine Professorin liebt und bezahlt ihn, ein Professor beschäftigt und bezahlt ihn. Wie beschämend und demütigend die Erfahrungen eines Sohnes aus einer Einwandererfamilie aus der Unterschicht sein können, wird  einfühlsamer und berührender selten vermittelt.

Martin Kordić wurde 1983 in Celle geboren und erwarb in Hildesheim das Diplom als Kulturwissenschaftler mit dem Fokus auf Gegenwartsliteratur. Seit einigen Jahren lebt er in München und arbeitet beim Hanser-Verlag als Lektor. Er schreibt, seit er denken (und schreiben) kann, stellt Listen auf, sammelt Beobachtungen, formuliert Sätze. Er taste sich langsam an ein Thema heran, erzählt er, habe fünf Jahre an „Jahre mit Martha“ geschrieben, auch für seinen ersten Roman, „Wie ich mir das Glück vorstelle“, habe er fünf Jahre und mehr als zwei Jahre Pause vom Schreiben gebraucht. Er handelt von einem Jungen, der versucht, im Bosnien-Krieg zu überleben; die komplexe Erzählstruktur spiegelt die Wirren im Alltag der Kampfhandlungen. Ein dritter Roman ist vorerst nicht in Sicht. „Alles, was ich erzählen wollte, steckt in ,Jahre mit Martha‘ drin“, sagt der Autor. Was drinsteckt, ist so überzeugend, dass Kordić im Dezember den Tukan-Preis der Stadt München „für die sprachlich, formal und inhaltlich herausragende literarische Neuerscheinung eine*r Münchner Autor*in“ (aus dem Portal der Stadt München) bekam, seit dem Erscheinen des Buches Mitte letzten Jahres Monate auf Lesereise war und in diesem Monat in Bremen den Förderpreis Bremer Literaturpreis entgegennimmt. Auch wenn Martin Kordić den Alltag, die Stabilität liebt, auch wenn er seinen eigenen, festen Bezug zu seinem Werk hat, haben ihn die Gespräche im Rahmen der Lesungen interessiert. Jede*r, sagt er, habe seine eigene Lesart, da entstünden viele neue Bücher in den Köpfen der Leserinnen und Leser. Lob und Kritik, alles habe seine Berechtigung.

Der Eindruck: Martin Kordić ruht in sich. Das Ende der Geschichte über die „Jahre mit Martha“ überrascht da umso mehr. Es ist ein Happy End der besonderen Art. Und es rumort in den Gedanken der Leserin: Wie umgehen mit Zuschreibungen wie „für Ausländerkinder ist das Gymnasium nichts“? Ist es möglich, soziale Schranken zu überwinden? Wie räumt man gesellschaftliche Barrieren beiseite? Und was kann Selbstermächtigung konkret bedeuten? Für den Autor jedenfalls ist der soziale Aspekt der entscheidende. Und so ist „Jahre mit Martha“ auch eine Abrechnung mit der bundesdeutschen gesellschaftlichen Realität. Inspiration findet Kordić bei Ágota Kristóf und ihren sprachlich präzisen und harten Zumutungen und bei Michael Haneke und seiner manchmal schmerzhaften Kompromisslosigkeit.

In unserer Serie „Jung und schreibend“, in der wir junge Münchner Autor*innen vorstellen, porträtierten wir bisher Lisa Jeschke, Leander Steinkopf, Daniel Bayerstorfer, Katharina Adler, Benedikt Feiten, Caitlin van der Maas, Samuel Fischer-Glaser, Vladimir Kholodkov, Annika Domainko, Jan Geiger, Ines Frieda Försterling, Rebecca Faber, Natascha Berglehner und Tristan Marquardt.