„Simone de Beauvoir & Das andere Geschlecht“, eine Ausstellung im Literaturhaus München

Von Katrin Diehl

Was jedenfalls keine vergessen sollte, ist, noch einmal einen Blick zurückzutun. Wenn die Besucherin also den Raum in seiner gesamten Länge durchschritten hat, wenn sie dort vor der Wand mit der durch ein paar feine Längen- und Breitengrade angedeuteten Weltkarte steht, dann kann sie sich erst einmal ein bisschen wundern. Da sind ein paar Erstveröffentlichungen der Übersetzungen von Simone de Beauvoirs feministischem Meilensteinwerk „Le deuxième sexe“, das 1949 in Paris erschienen ist, angebracht. Wundern kann sie sich, dass das offensichtlich eine deutsche Erfindung war, aus dem „zweiten Geschlecht“, verändernd und zum ersten Mal 1951 ein „anderes“ Geschlecht zu machen (und die DDR zog da 1989 (!) brav nach). Mit Interesse registrieren kann sie, dass bereits bestehende Ausgaben auf Chinesisch und Arabisch 2011 bzw. 2017 „kritisch überarbeitet“ worden sind. Schon alleine darüber ließe sich anregend unterhalten und auch darüber, welche Lesererfahrung das ist, wenn sich frau Jahrzehnte nach Erscheinen des Originals in einer doch etwas veränderten (bei weitem nicht perfekten) Welt (noch einmal) in dieses Großwerk, das sich mit den Zwängen weiblicher Lebensführung befasst, vertieft. Andere Frage an gut drei Frauengenerationen: Wer hat de Beauvoirs „Le deuxième sexe“ wirklich gelesen? So ganz? So richtig? Sei’s drum. Von seiner Macht wissen wir, vom Skandal, den der Klassiker der modernen Frauenbewegung beim Erscheinen ausgelöst hat, ebenso, und ein paar Sätze sind uns für immer im Ohr geblieben, wie natürlich dieses „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“. „Frauen, Ihr verdankt ihr alles!“, soll die französische Philosophin und Feministin Elisabeth Badinter der de Beauvoir (1908-1986) bei deren Beerdigung auf dem Pariser Cimetière Montparnasse nachgerufen haben. Von der englischen Schriftstellerin Sarah Bakewell („Das Café der Existenzialisten“) stammt das Zitat: „Das andere Geschlecht hätte einen Platz neben anderen Grundlagenwerken der Moderne verdient: neben Charles Darwin, neben Karl Marx und neben Sigmund Freud.“

Die Besucherin der Ausstellung sollte sich an dieser Stelle unbedingt noch einmal umdrehen, so dass sie diese Weltkarte im Rücken hat. Da bietet sich ihr doch ein sehr einnehmendes Bild einer Art Allee aus fein-roten Stellwänden, auf die jeweils großformatige Fotografien von Simone de Beauvoir angebracht sind, Ausweisbilder, die der Fotografierten einen sehr präsenten Blick abverlangten: Simone de Beauvoir sehr jung, Simone de Beauvoir etwas älter, noch etwas älter … Das hat starken Charme und macht Lust noch einmal loszuflanieren, zumal da auch für ein bisschen Straßencafé-Atmosphäre gesorgt wurde.

Die Ausstellung „Simone de Beauvoir & Das andere Ge-schlecht“ ist eine Übernahme aus der Bundeskunsthalle Bonn. Fürs Münchner Literaturhaus haben Tanja Graf und Anna Seethaler kuratiert, was sich vor allem auf den, räumlich gesehen, mittigen Teil bezieht. Hier wird sich sehr einladend mit „Le deuxième sexe“ befasst. Die Ausstellungsmacherinnen konfrontierten die ZEIT-Journalistin, Expertin für Französische Literatur, auch de Beauvoir-Kennerin Iris Radisch – eine Dame einer Generation, die dem de Beauvoir-Gefühl noch einmal näher steht – mit zentralen Aussagen, Begriffen aus „Das andere Geschlecht“, wie „Freiheit“, „Natur“, „Mythos“, „Frau und Gesellschaft“ … Darauf ließen die Ausstellungsmacherinnen dann Feministinnen unterschiedlicher, aktueller Aktionsräume reagieren (wie die Autorinnen, Wissenschaftlerinnen Julia Korbik, Stefanie Lohaus, Imke Schmincke, Lea-Riccarda Prix, Anna-Lisa Dieter). An Bildschirmen und in feinen Portionen lassen sich die Positionen verfolgen.

Wunderbar ist es, sich noch einmal Alice Schwarzers Film über die de Beauvoir aus den 70ern anzusehen, der uns Zeit wie Frauen sehr nahebringt. An den Wänden entlang ziehen sich Stationen zu de Beauvoirs Leben, die sich bewusst aus der Enge eines untergehakten Jean-Paul Sartres und damit der bösen Bezeichnung der „Grande Sartreuse“ lösen lassen zugunsten ihrer vielen anderen (existenzialistischen) Esprit-Quellen. Einfach schön ist es, mal die Erstausgabe von „Le deuxième sexe“ ansehen zu können, aus dem Hause Gallimard, fein gestaltet, vielseitig, zweibändig. Während sich der erste Band biologischen wie historischen Fakten zur weiblichen Identität und Geschlechterbeziehung widmet, berichtet der zweite von den „gelebten Erfahrungen“ der Frauen „heute“, eine äußerst selbstbewusste Herangehensweise, die Wissenschaftliches mit persönlich Erlebtem und Beobachtetem verbindet. Sehr fein sind noch zwei Kleinigkeiten: Der zarte Vermerk „erstes eigenes Zimmer“ auf der vergilbten Paris-Karte mit den Nadeln zu de Beauvoirs Aufenthaltsorten, wie die wenige Zentimeter hohe Skulptur Alberto Giacomettis von de Beauvoirs Kopf aus dem Jahr 1946. Diese Ausstellung ist so wichtig wie wunderbar.

Simone de Beauvoir & Das andere Geschlecht
Ausstellung, bis 30. April 2023
Literaturhaus München, Salvatorplatz 1, Galerie (EG)
Montag bis Sonntag 11:00 bis 18:00 Uhr

PS: Für Kommentare stellt die Ausstellung eine Zettelwand zur Verfügung, die auch rege genutzt wird.
So kritisieren zum Beispiel nicht wenige Besucherinnen die sehr eurozentrische, „weiße“ Sicht auf die Thematik.