Von Ray Mohra

Um ins Laternchen zu gelangen, musste man nicht nur die massive Außentür aufziehen, sondern auch einen dicken, braunen und im Halbrund aufgehängten Vorhang zur Seite schieben, der wohl verhindern sollte, dass frische Luft von draußen hineingelangen konnte. Wer als Fremder zum ersten Mal das Laternchen betrat, hatte sich auf eine gewaltige Überdosis 1. FC Köln gefasst zu machen. Die Kneipe war voll mit Devotionalien des Vereins. Mannschaftsfotos von den Anfangszeiten der frühen 50er Jahre bis zur aktuellen Saison 1984 hingen beinahe überall. Über dem Tresen waren mehrere Vereinswimpel befestigt und ein Geißbock mit einer Decke auf dem Rücken, auf der Hennes stand, war der Blickfang im Thekenbereich. Die Luft hier drinnen hatte schon etwas Körperliches, es roch nach Zigaretten und Bier und der Lärmpegel der Kneipengäste wurde nur durch die Rock-Ola Musikbox übertroffen, die ihre rund siebzig Schlagertitel in unermüdlicher Rotation rauf- und runterspielte. Nicht nur musikalisch schien im Laternchen die Zeit vor vielen Jahren stehengeblieben zu sein.

Oooh oh, Motorbiene“ tremolierte Benny Quick gerade, als sie das Laternchen betraten. Sie sahen sich suchend um. „Irgendwo muss er sein, guck mal mit!“ Ich weiß doch überhaupt nicht, wie dieser Eddy aussieht, nach wem soll ich also bitte schön suchen, dachte Andi und schüttelte den Kopf. Eddy hatte die beiden bereits entdeckt und winkte sie fröhlich zu sich herüber.

… dann fahr’n wir noch mit der Geisterbahn und du schreist laut so wie der letzte Zahn …“ Die beiden Männerfreunde drückten sich zur Begrüßung und patschten sich gegenseitig auf den Rücken. „Hey Eddy, das ist Andi, mein Sohn.“ Andi konnte sich nicht erinnern, dass er von seinem Vater jemals so nett vorgestellt wurde. „Freut mich, Andi. Ich heiße Eddy“, sagte Eddy und reichte ihm die Hand. So viel Höflichkeit hatte Andi von diesem Eddy gar nicht erwartet. Er ließ sich auf den angebotenen Handschlag ein und lächelte unverbindlich. Sie setzten sich. Ein Köbes1 erschien prompt und nahm die Bestellung auf. „Zwei Kölsch, zwei Korn und ein …?“ sein Vater hob die Augenbrauen und schaute zu Andi. „Eine Cola, bitte“, sagte Andi schnell. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er ab sofort von keinem der hier Anwesenden mehr als vollwertiger Mensch betrachtet wurde. Aber was sollte er machen? Er verabscheute Bier schon solange er denken konnte. Der Kellner nickte kurz, lud ein paar leere Kölschgläser aufs Tablett und verschwand.

Sein Vater und Eddy saßen ihm gegenüber und fingen ohne große Einleitung an, über Belangloses zu reden. Erst schimpften sie über das Wetter, dann kam von Eddy ein bisschen Halbgares über Fußball, schließlich wieder Wetter.

„Wie geht’s eigentlich Hildegard?“, kam es irgendwann aus der Richtung seines Vaters und Eddy zuckte kurz mit einer Wange. „Ach … Hilde … ja, gut“, gab dieser schmallippig zurück und ergänzte mit einer alten kölschen Weisheit: „Et bliev nix, wie et wor.“2

Der Kellner entlud die bestellten Getränke auf dem Tisch. „Theo, wir fahr’n nach Lodz!“, schmetterte Vicky Leandros nun zum Intro ihres Hits von 1974. Andi stand zwar eher auf ELO, aber er fand dieses Lied schon als Kind ganz ok. Leider hatte seine Mutter seinem Vater gegenüber nie einen solchen Kommandoton zustande gebracht. Stattdessen war sie froh, wenn er auf der Arbeit war oder sich sonst wo herumtrieb. Es war ihr wahrscheinlich egal. Hauptsache, er war nicht zuhause.

Am Stammtisch in der Ecke lachten ein paar Kartenspieler laut auf, nachdem einer von ihnen seine Karten auf die Tischplatte schmetterte. Und da war es wieder, Andis ganz persönliches Déjà-vu: dieses Gefühl der Ohnmacht, gefangen zu sein an einem Tisch in irgendeiner stinkenden Kneipe und warten zu müssen, bis sein Vater endlich genug Bier intus hatte. Schon hundertmal hatte er sich in der gleichen Situation befunden, entweder zu zweit mit seinem Vater oder zu viert mit seiner Mutter und Christiane. Nach dem Vorschlag seines Vaters, ins Laternchen zu gehen, hatte er schon geahnt, worauf dieser Abend hinauslaufen würde und er ärgerte sich wieder einmal über seinen ungebrochenen Optimismus, dass es vielleicht auch mal anders sein könnte. Inzwischen waren sie schon über zwei Stunden hier und der Lärmpegel stieg mit dem Alkoholpegel der Anwesenden.

„Ich muss mal“, sagte Andi und suchte das Schild mit der Aufschrift Toilette. „Da hinten durch“, rief Eddy und zeigte ihm die Richtung an. […] Als Andi wieder zum Tisch von Eddy und seinem Vater kam, versuchte er, den Teil seiner Hose, den er sich am Urinal vollgespritzt hatte, irgendwie zu verdecken. Aus der Jukebox dröhnte der Marsch Alte Kameraden vom Musikkorps der Bundeswehr. Der Abend im Laternchen steuerte offenbar seinem Höhepunkt entgegen.

„Da bist du ja wieder, wir wollten gerade eine Suchmeldung aufgeben“, juxte Eddy und sein Vater grinste breit. Dieser Eddy war schon ein komischer Vogel. Die halb aufgekrempelten Ärmel seiner Lederjacke gaben den Blick auf eine scheinbar teure Armbanduhr frei. Dazu trug er eine Goldkette am Hals und einen permanenten Gönnerblick im Gesicht. Dabei war dieser schmierige Typ noch nicht einmal unsympathisch. Zumindest schien er bemüht, einen guten Eindruck zu machen.

Es war kurz nach 23:00 Uhr, als sein Vater einen glasigen Blick hatte. Er versuchte, Eddys Ausführungen zu folgen, warum es für den FC letztes Jahr in der Bundesliga so gut und im DFB-Pokal so beschissen gelaufen ist. Was ihm offenbar große Mühe bereitete, denn seine Augen fielen immer wieder zeitlupenartig zu. Dann riss er sie wieder auf und wackelte dabei ungelenk mit dem Kopf. Keine Frage, sein Vater befand sich wieder in diesem Zustand, für den Andi nichts anderes als Abscheu empfinden konnte. Matthias Krammer fixierte seinen Sohn mit einem unsteten, aber ernsten Blick.

„Deine Mutter ist ein Mm-m-Miststück!“

Eddy legte seine Hand auf den Rücken seines Freundes, als wenn er ihn trösten wollte.

„Ja, ein Miststück!“

„Bitte hör auf, Papa!“

„Matthias, ich glaub du hast genug…“

„Ein dämliches Mist- „

„Papa, bitte!“

„-stück!“

Es hatte keinen Sinn. Andi wollte am liebsten auf der Stelle wieder nach Hause fahren.

„Matthias, ich denk mal, es reicht für heute. Wir bringen dich nach Hause, ok?“ Eddy beglich generös die Zeche, wobei Andi einen Moment lang über die vielen Geldscheine in dessen Brieftasche staunte. Sie nahmen Andis Vater in die Mitte und schafften ihn mühsam nach Hause. Der Weg zog sich ewig lang, immer wieder mussten sie Andis Vater daran hindern, auf die Straße zu laufen oder Leute zu beschimpfen. Nachdem Eddy seinen betrunkenen Freund auf dessen Wohnzimmercouch entladen hatte, verabschiedete er sich von Andi mit einem Augenzwinkern.

„Pass gut auf deinen alten Herrn auf! Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.“

1)  Köbes kommt von Jakob. So werden alle Kellner im Rheinland genannt
2)  Kölsches Grundgesetz §5

Aus:
Ray Mohra: Turntable
Roman, Paperback, 276 Seiten
RayMohra Musikverlag, Abensberg, 2021
ISBN 978-3-00-070926-5
14 Euro

Der 1966 geborene Musiker, Songwriter und Buchautor mit Kölner Wurzeln lebt in Abensberg und hat Ende 2020 begonnen, eigene Songs und Geschichten zu veröffentlichen.