Florian Göttlers Roman über Dachau während der NS-Zeit

Von Michael Berwanger

Dachau zwischen 1933 und 45? Automatisch denkt man, dazu sei doch schon alles geschrieben worden. Bei genauerer Betrachtung drehen sich die meisten historischen Werke zu Dachau während der NS-Zeit aber um das Konzentrationslager, das im März 1933 bei Dachau auf dem Gelände der ehemaligen „Königlichen Pulver- und Munitionsfabrik“ in Betrieb genommen worden ist. So schreibt Stanislav Zámečník in seinem Standardwerk „Das war Dachau“ über die Greuel im KZ und Sybille Steinbacher in „Dachau – Die Stadt und das Konzentrationslager in der NS-Zeit“ über das Verhältnis des Marktes Dachau zu jenem Lager, das die Münchner NS-Größen Himmler und Wagner den Dachauer*innen aufgenötigt hatten (was durchwegs auf die Zustimmung und das Wohlwollen des Gemeinderates und der Kaufleute traf).

Nun hat sich aber Florian Göttler daran gemacht, das Alltagsleben der Bevölkerung Dachaus während der NS-Zeit zu thematisieren. Der Autor, der in seinem Brotberuf die Pressestelle der Stadt Dachau leitet und bisher Krimis und Kurzgeschichten mit teilweise trashigem Einschlag schrieb, hat sich durch tausende Seiten Zeitungslektüre gewühlt. Auf Dachau bezogen heißt die Quelle da hauptsächlich: „Amperbote“. Dabei darf man nicht davon ausgehen, dass der „Amperbote“ – den es immer noch gibt und der ein klägliches Dasein als Anzeigenblättchen fristet – damals als der Nabel der journalistischen Welt galt. Vielmehr erlauben gerade die Provinzialität, die Gleichschaltung der Redaktion ab März 1933 und der damit verbundene schwurbelige Schreibstil einen tiefen Einblick in die Dachauer Bürgerlichkeit dieser Jahre.

Und so begleiten wir die beiden Protagonist*innen Nelly Lerch und ihren Verlobten Heinrich Bürgers durch den ersten Teil des als zweibändiges Werk angelegten Roman. Diese beiden Figuren sind die einzigen fiktiven Gestalten, die die Handlung vorantreiben und die Einzelgeschehnisse, die chronologisch erzählt werden, verknüpfen. Alle anderen Vorkommenden im Roman sind Personen der Zeitgeschichte. Mögen Dialoge und einzelne Handlungen erfunden sein, die Feste und Aufmärsche, Ratssitzungen und Wirtshaustreffen sind es nicht. Der Großteil des Romans spielt in der Dachauer Künstlerschaft der KVD (Künstlervereinigung Dachau), die damals noch eine wichtige kulturelle Rolle im „Reich“ spielen konnte, was sie der einstigen Künstlerkolonie zu verdanken hatte. Beim Lesen wähnt man sich zugegen, wenn Walter von Ruckteschell, Herrmann Stockmann und Paula Wimmer die legendären Küstlerbälle organisieren. Dabei wird deutlich, dass Personen, die heute in Dachau Ansehen genießen, wie eben Stockmann und von Ruckteschell, ebenso NS-Mitläufer waren, wie der Stadtpfarrer Pfanzelt oder Stadtrat Hans Zauner (nach der NS-Zeit Bürgermeister).

Man kann den Menschen an Orte folgen, die es immer noch gibt, lernt aber auch Neues über die Stadt Dachau. Aber, was den Roman ausmacht, ist, dass die Geschichte – gerade die NS-Geschichte – an „Ottonarmalverbraucher“ entlangerzählt wird. Die Ängste und Sorgen der Bevölkerung werden ebenso fühlbar wie ihre Großmäuligkeit und ihre Hybris. So wird beispielsweise einem Antrag auf Entfernung von handgeschriebenen „Juden-sind-hier-unerwünscht“-Schildern im Stadtrat stattgegeben mit der Begründung, die „Stadt wird Sorge tragen, daß an ihrer Stelle entsprechend saubere Aufschriften treten“. Genauestens dokumentiert und am 21. Mai 1935 im „Amperboten“ wiedergegeben. Diese Szene ist so grotesk, dass man sie sich kaum hätte ausdenken können. Damit enthebt sich der Roman auch des reinen Lokalkolorits. Szenen dieser Art gab es vermutlich in allen Städten und Märkten des Dritten Reiches, die dachten, sie könnten sich eine Scheibe vom vermeintlichen Ruhm (und Vermögen) der aufstrebenden NS-Diktatur abschneiden. Und noch eines zeigt der Roman sehr deutlich. Die Schlimmsten von allen sind die Karrieristen – wie hier im Roman der Kreisleiter Hans Eder –, die als nassforsche Kinnmuskelspanner bereit sind, für ihr Fortkommen über jede Leiche zu gehen.

Florian Göttler
Dachau 1933 – 1945
Teil 1
Roman, Paperback, 320 S.
BoD Norderstedt, 2022
ISBN 9-783756-836857
15 Euro