Sarah Kiyanrad wurde in Stuttgart geboren und lebt heute in Augsburg. Tagsüber hält sie sich meist im 16. und 17. Jahrhundert auf, nachts im Reich der Wörter. Neben der Arbeit an den eigenen Gedichten übersetzt sie Lyrik, Kinderbücher und Romane aus dem Farsi ins Deutsche.

Über ihr Schreiben sagt sie, dass sie das Gefühl habe, einen Raum zu betreten, in dem die Zeit stillstehe, weil sich dort Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart träfen. „Und sie vertrauen so seltsam optimistisch darauf, dass auch in Zukunft immer wieder jemand die Tür öffnet und mitreden will.“ Neben „dorna“ und „Jahre nach dir“ sind mehrere kleinere Arbeiten wie der Zyklus „Wintersilben“ und die Gedichtcollage „vordeiNATUeR“ entstanden. Aktuell widmet Kiyanrad sich der Übersetzung eines persischen Romans. Red.

die Weißhaarige

in den Runden die sie täglich in die Erde zog
glichen wir einander
obwohl wir uns nie grüßten
ihr Kopf eine stumme Schneeglocke
die Augen hielten den Boden vor ihren Schuhen fest
wo ist heute die Frau mit den weißen Haaren
fragten wir uns manchmal
gewöhnt an ihre sanfte Präsenz
ein weißer Schatten der uns im Wald vorausging oder
als Nebel auf einer Parkbank zu warten schien
Dinge die wir uns bisweilen erlaubten zu sagen
dass die falschen Menschen Hunde hielten
und wie tröstlich es wäre
Sätze dieser Art eben die einem niemals unter Freunden passieren
an dem Morgen als ich ihr zum ersten Mal
alleine folgte
bevor sie für immer verschwand
führte sie mich ungeduldig zum See
wie zur Lösung eines einfachen Rätsels
sah ich hinunter in seinen Spiegel fand mich mit weißem Haar

der Himmel

der Himmel
ist ein Maulbeerbaum
ist der nächtliche Blitz
den die Hitze
auf die Höhen schickt
ist das Beklatschen
der Blitze
die die Hitze
auf die Höhen schickt
ist das Rot der Berberitze
ist der Blick zum Meer
gelehnt an ein Haus
der Himmel liegt
vergessen
in den Stimmen
die dich
bei deinem Namen
nennen
wo
die Freundin fordert
der Vater nuschelt
die Tanten singen
du sollst
zur Feier der Blitze
sandige Maulbeeren
das Lachen der Berberitze
und Kranichfedern
mit auf die Terrasse bringen
der Himmel
bist du
die rasenden Daevas
haben dich
aus Granatapfel
geschnitzt
deine Zunge
mit Engelshaar
bezogen
dir ein Auge
aus Walnussfleisch
gegeben
und ich
ich
habe Hunger

Aus: Sarah Kiyanrad: dorna
Gedichte, 90 Seiten
PalmArtPress, Berlin 2023
20 Euro