Ilona Jergers Roman über den Verhaltensforscher Konrad Lorenz

Von Stefanie Bürgers

Weißer Haarschopf im See inmitten von Graugänsen, ein vertrautes, sympathisches Bild: Konrad Lorenz, österreichischer Humanmediziner, Zoologe und Verhaltensforscher, der bei Wien mit Graugänsen lebte, ihre Laute nachahmte und Gras mit dem Mund zupfte. Bereits in den frühen 1930er Jahren beschrieb er – durch empirische Beobachtung belegt –, dass ein Gänseküken das erste Lebewesen, das es nach dem Schlüpfen erblickt, als Mutter annimmt. So kam es, dass die Mutterrolle bei seinem ersten Beobachtungsobjekt – von Lorenz Martina genannt – zwangsläufig auf ihn fiel. Alle späteren Versuche, die Prägung zu ändern, schlugen fehl. Martina folgte Lorenz Tag und Nacht – bis ins Schlafzimmer, wo sie nachts von ihm eine Heizdecke bekam.

Lorenz bewies, dass Prägung entscheidet und nicht Erlerntes. Ein Ergebnis, das das streng katholische Österreich ablehnte, denn die von Lorenz in Gefolgschaft Darwins propagierte Evolution lief dem Schöpfungsglauben der Katholischen Kirche zuwider. Lorenz fand in Österreich keine Anstellung.

Anders im benachbarten Deutschen Reich der NS-Zeit. Forschung sollte dort der Ideologie nutzen. Lorenz schreibt über „erbliche Degeneration“, und dass „ein Volksarzt diese Krebsgeschwüre aus dem Volkskörper herausschneiden“ solle. Um zu gefallen, passte der Forscher und Erzähler Aussagen seiner Tiergeschichten der Ideologie an. Lorenz’ Forschungsobjekte mussten der Sache dienen, und aus Martina, die im Haus mit ihm als Mutter aufwuchs, wurde der „instinktsichere Idealtyp der Graugans“.

Für Lorenz lohnte sich die Anbiederung. 1940 erhielt er den Kant-Lehrstuhl für Philosophie in Königsberg und erforschte „tierische Instinkte, die im Menschen weiterwirken“. Mit allerlei Getier aus seinem persönlichen Forschungsgarten bei Altenberg trat er die lange Reise nach Königsberg per Bahn an, wo die Graugänse im Zugabteil auf- und abmarschiert sein sollen und den Barschen in Wasser befüllten Kannen Sauerstoff zugerührt werden musste. Doch sein Glück als Professor in Königsberg währte nur kurz. Schon bald wurde er als Militärarzt zum Krieg einberufen. Am Ende stand die russische Kriegsgefangenschaft.

Dort kamen seine diversen Talente zum Tragen. Mit Furchtlosigkeit und medizinischem Verstand half er den Kameraden: Er war ein Überlebenskünstler, was Nahrungsquellen betraf und eine moralische Stütze. Mit humorvollen Tieranekdoten sorgte er für Zuversicht. Gleichzeitig begann er auf Papierschnipsel ehemaliger Zementsäcken sein „Russisches Manuskript“ über vergleichende Verhaltensforschung.

Humorvoll und sensibel schildert die Münchner Autorin Ilona Jerger, die am Bodensee nahe einer Vogelwarte aufgewachsen ist, in dem biographischen Roman „Lorenz“ das Leben des unkonventionellen Mannes und flicht in den Text gekonnt sich parallel zutragende Weltgeschichte ein. Das Spannungsfeld zwischen genialem Forscher und Nazi-Täter, zwischen dem begeisternden Erzähler, der die Welt mit Darwin versöhnte, und dem Sturkopf, der – wie sein Vater – der Rassenkunde anhing, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman. Jerger lässt diese Gleichzeitigkeit an einem stürmischen Abend in Freiburg der Nachkriegszeit kulminieren, wo Konrad Lorenz, Martin Heidegger und Paul Celan zur gleichen Stunde bei drei Veranstaltungen auftraten.

Jerger schreibt spannend und lehrreich. Mit trockenem Witz skizziert sie Lorenz’ Leben in seinem geschichtlichen Umfeld voller Widersprüche. „Schmälert das Private die Leistung des Genies?“, fragt die Verlegerin des Piper Verlages Felicitas von Lovenberg die Autorin in einem Interview. Ilona Jerger entgegnet: „Als Leser muss man beide Seiten aushalten.“

Ilona Jerger: Lorenz
Roman, 363 S., gebunden
Piper Verlag München 2023
24 Euro