Von Genia Livshi 

Der Bus hielt an, die Frau grapschte mit Wucht die Hand des zweieinhalbjährigen Kindes, schob es vor sich hin und kreischte es mit einer leicht befehlenden Stimme an, auszusteigen. Dann folgte sie ihm, während sie hastig die Griffe ihrer großen Tasche an der Schulter zu ordnen versuchte, und stieg vorsichtig, langsam die zwei Stufen hinunter.
Die Landstraße war billig asphaltiert, zerfranst, zweispurig, am Rande staubig, ein Rest des Erdbodens. Einzelne Häuser mit Gärten waren verstreut in der Gegend neben überwucherten Grundstücken, mit von der Sonne verbrannten Gräsern und Kräutern, die vielleicht einen neuen Besitzer suchten.
Sie stand einen Moment da, sah sich um, als ob sie die Umgebung mit all ihren Sinnen erkunden wollte.
„Schön ist es wahrlich nicht“, dachte sie.
Sie nahm die Hand des Kindes, sie ging von der Ausstiegsstelle ein paar Schritte zurück und lächelte triumphierend vor sich hin, sie lag doch richtig, hier war der Weg, den sie bereits kannte. Die ganze Anstrengung und Anspannung, um diese Stelle nicht zu verpassen. Im Bus hätte sie sich beinahe, um durch die Fensterscheiben etwas Bekanntes zu erkennen, den Hals verrenkt.
Ihr pikee, hell blau, geblümtes Kleid flatterte leicht in der Vormittagsbrise, während sie den Weg hinunter zum Meer schritt.
„Du gehst zu schnell Mama“, sagte das Kind, das sie an der Hand schleifte.
„Nein, ich kann gar nicht schnell gehen“, erwiderte sie und richtete ihren Blick deutend auf ihr atrophisches Bein hin. Sie ging mit gerade erhobenem Haupt, fast starrend, auf das Ziel zu, und sie nahm nicht die leise kullernden Tränen an den Wangen des Kindes wahr, das Schmerzen an den Füßen spürte.

Glückseligkeit überfiel sie, als sie endlich den Strand erreichten, sie atmete gleich einmal tief die feuchte, salzige Luft ein. Mit schnellen Bewegungen zog sie die Kleider des Kindes aus und ließ nur seine Unterhose an, drückte ihm den Plastikeimer und Schaufel in die Hand und sagte: „Geh jetzt buddeln.“
Das Kind nahm die Sachen und entfernte sich ein paar Meter von ihr, setzte sich auf den Boden und fing an, den Eimer mit Sand aufzufüllen.
Sie breitete das große Badetuch aus, das fast die Größe einer kleinen Decke hatte, setzte ihre Tasche und ihren Strohhut ab und knöpfte langsam ihr Kleid auf. Der aus Polyester Latex schwarze Badeanzug schien kaum in der Lage zu sein, ihre mit Fett beladenen, ausgeleierten Muskeln zu zähmen.
Sie legte sich gleich auf das Badetuch und spürte den noch von der Nacht feuchten Sand unter ihrem Rücken.
„Es ist noch früh, angenehm menschenleer der Strand“, dachte sie, legte den Strohhut auf ihr Gesicht und schloss ihre Augen.
Nun nahm sie den gleichmäßigen Klang der leise zischenden Brandung wahr, ein Einsingen, das ihre Glieder auflockerte.

„Als ich meinem Vater zustimmte, mich zu verkaufen, kreisten andere Vorstellungen vom Stadtleben und dem Frau-sein in meinem Kopf. Unversehens wurde meine Verkrüppelung offensichtlich. Mein Ehemann drängte, ich ahnungslos, einen fremden Balg auf meinen Schoß. Er ist kein schlechter Mann.
Ich habe mich damals von seiner mondänen Art und Schönheit blenden lassen und sah meine Sehnsucht, der Dorfhäme zu entfliehen, mit dieser Heirat erfüllt. Ich war die alte Jungfer in dem Dorf, lebendig begraben. Die Bauern haben uns alle, meine ganze Familie geächtet, feindselig, dennoch abhängig von der Wirtschaft meines Vaters. Ich musste mit meinen Schwestern immer zu Hause bleiben, wir hatten Angst, auf die Straße zu gehen, damit wir nicht angegriffen werden.
Hier ist es besser, obwohl mein Ehemann früh morgens das Haus verlässt und spät abends zurückkommt und ich mich tagtäglich um dieses hässliche Kind kümmern muss, und obwohl ich jetzt humpele, bin ich doch noch am Leben und frei.“
Mit diesen Gedanken, schlummernd, fast aufgelöst, wusste sie nicht, ob sie zufrieden oder sogar glücklich war oder ihren geplatzten Träumen eines Liebeslebens nachtrauerte. Ein Wirrwarr von Stimmen einer Menschenmenge, die sie nicht richtig vernehmen konnte, störte die Ruhe des Strands. „Die Menschen sind überall laut“, dachte sie, „ängstliche, unruhige Schreihälse“; sie drehte sich um und schlief tief ein.
Das Kind spielte mit Sand-Türmen-und Burgen, und als es ihm langweilig wurde, ging es zur Brandung und fing an die kleinen Muscheln und Steinchen zu beobachten und sie zu sammeln. Und so entdeckte es ein paar Schritte weiter in dem klaren Wasser noch schönere und interessantere Steine und größere Muschelschalen.
Die sanften Bewegungen der Wellen schoben es langsam ins Meer und plötzlich fühlte es den Boden unter seinen Füßen nicht mehr, so fing es an, irgendwie zu schwimmen. Das Wasser trieb das Kind weiter, das sich müde fühlte, anfing zu weinen und mit seinen Ärmchen zu fuchteln. Es sah plötzlich schwarz, sah gar nichts und tat nichts. Einige Badende haben das Kind gesehen, als es anfing zu ertrinken.
Männer und Frauen schrien: „Ein Kind ertrinkt, rettet das Kind!“
Ein Mann sprang ins Wasser, zog es hoch und legte es auf seine Schulter.
Auf dem Sand versuchten eine Frau und ein Mann, das Kleine zu beleben.
„Wem gehört das Ärmste?“ fragte ein Mann.
„Keinem von uns, wir wissen es nicht“, antwortete eine Frau.
„Wir müssen das Kind ins Krankenhaus bringen“, sagte ein Mann, „vielleicht ist es schon zu spät.“

Die Stille weckte sie auf, sie sah die flimmernde Hitze am Meereshorizont, der Strand war menschenleer.